Die Wiederentdeckung von Lefebvre erfolgte im Kontext des »spatial turn«, mit dem ein verstärktes Interesse an räumlichen Fragestellungen einherging. Nicht zufällig inspirierte Lefebvres Buch La production de l’espace (1974), 1991 erstmals ins Englische übersetzt, insbesondere ideologische Strömungen einer postmodern ausgerichteten Geographie (vgl. u.a. Soja 1989). Das »wilde Denken« von Lefebvre erleichterte einen »poststrukturalistischen « Zugriff auf dessen Raumtheorien, allerdings unter Ausblendung seiner revolutions-theoretischen Ambitionen. So »entschlackt«, ist Henri Lefebvre inzwischen in den Olymp der Klassiker aufgestiegen und gilt nun als Vordenker einer Raumvorstellung, die zum festen Bestandteil des sozialwissenschaftlichen Wissens gehört (Löw et al. 2008, S. 55).
Die Wiederauflage von Die Revolution der Städte bietet die Möglichkeit, auch die militante und aktionistische Dimension seines Denkens wieder zur Kenntnis zu nehmen. 12 Selbst wenn man die geschichtsphilosophischen Annahmen Lefebvres nicht teilt, eröffnet sich damit eine andere Perspektive auf gesellschaftliche Entwicklungen. Denn das »Mögliche« im Sinne von Lefebvre steht auch für die Unvorhersehbarkeit der Wirkungen von Handlungen in historischen Prozessen. Die Geschichte der Räume war und ist immer eine Geschichte der gesellschaftlichen Widersprüche. Gleichwohl wird der neoliberale Kapitalismus oft als »stählernes Gehäuse« dargestellt, aus dem es angeblich kein Entrinnen gibt. Der herrschende Diskurs negiert den konstruktiven Charakter der Wirklichkeit, in der wir leben, und unsere grundsätzliche Freiheit innerhalb dieser Wirklichkeit.
Angesichts der sozialen Proteste in Kairo und Istanbul, die ihren Ausgang von der Besetzung zentraler städtischer Plätze nahmen, erweist sich eine Aussage in Die Revolution der Städte als prognostisch: »[...] das Vakuum (ein Platz) zieht an; das ist sein Sinn und sein Zweck. Hier oder da kann sich eine Menge versammeln, Objekte können sich anhäufen, ein Fest kann sich entfalten, ein angenehmes oder entsetzliches Ereignis eintreten. Hier, in der möglichen Zentralität, liegt die Faszination des städtischen Raums. Gleichzeitig kann dieser Raum sich leeren, kann, wenn man so sagen darf, den Inhalt ausschließen, zum Ort der Seltenheit oder der Macht im Reinzustand werden.« (Ebd., S. 140)
Klaus Ronneberger, Frankfurt a.M. im November 2013
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