Im letzten Jahrzehnt hat die Forderung nach einem »Recht auf die Stadt« eine Renaissance erlebt. Unter dieser eingängigen Parole werden sehr unterschiedliche Themen der aktuellen Stadtentwicklung gebündelt: Privatisierung kommunaler Güter, Gentrifizierung und gated communities, kontrollpolitische Durchdringung öffentlicher Räume etc. Viele globale NGO-Netzwerke, darunter solche, die Unterstützung aus UN-Programmen wie etwa Habitat erhalten, haben Agenden entwickelt, in denen dieser Slogan auftaucht (so wurde zum Beispiel 2005 auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre eine Welt-Charta zum »Recht auf die Stadt« beschlossen). Bei diesen Aktivitäten geht es vor allem um good urban governance , sprich menschenwürdiges und umweltgerechtes Wohnen und eine ausreichende Infrastruktur (Mayer 2009, S. 17). Solche pragmatischen Konzepte, deren Umsetzung in vielen Fällen zu einer Verbesserung des städtischen Alltagslebens beitragen würde, haben mit den Intentionen von Lefebvre nur wenig gemein. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass sich die gesellschaftspolitischen Kräfteverhältnisse gegenüber den frühen siebziger Jahren grundlegend geändert haben. Am Ende von Die Revolution der Städte beklagt Lefebvre die »außerordentliche Passivität der Leute« (ebd., S. 191). Deren angebliche »Stummheit« beruhe »auf der Zerstückelung des Phänomens der Verstädterung .« (Ebd., S. 195). Eine irritierende Wahrnehmung für die damalige Zeit. Das Grollen der 68er-Revolte ist zwar bei der Veröffentlichung von La révolution urbaine weitgehend verhallt, aber die »Kinder des Fordismus« reiben sich zunehmend an den rigiden Disziplinartechniken, die damals in Schule, Fabrik und Familie vorherrschen. In den siebziger Jahren kommt es zu einer Reihe von sozialen Bewegungen, die die autoritären Strukturen des Fordismus attackieren und »Autonomie« und Selbstverwirklichung einfordern. Auch die Kritik an der technokratischen Naturbeherrschung gewinnt mit der Alternativ- und Anti-AKW-Bewegung an gesellschaftlichem Einfluss.
Obwohl Lefebvre das Alltagsleben immer wieder als Ort »des Wirklichen und des Möglichen« beschwört, verflüchtigt sich diese Widersprüchlichkeit in seinen konkreten Gesellschaftsanalysen. Die propagierte Dialektik von »Entfremdung« und »Aneignung« geht zugunsten einer Perspektive verloren, in der die soziale Praxis der Kollektive fast gänzlich verdinglicht und normiert erscheint.
Lefebvre und das Elend der deutschen Urbanistik
Die Bedeutung, die Henri Lefebvre zeitweilig für die Neue Linke in der Bundesrepublik hatte, verdankte sich einer spezifischen historischen Konstellation: In den sechziger Jahren galt der französische Philosoph im deutschsprachigen Raum zunächst als Kritiker eines rigiden Parteikommunismus. Sein Rückgriff auf die Frühschriften von Marx machte ihn anschlussfähig an eine »humanistische« Kapitalismus- und Kulturkritik, der es vor allem um die Entfremdungsproblematik ging. Zunächst unter Intellektuellen als Geheimtipp gehandelt, fanden die Schriften Lefebvres zunehmend Verbreitung. 10 Seine Thesen zum modernen Alltagsleben, die man nachträglich als treffende Kritik des fordistischen Vergesellschaftungsmodells verstehen kann, wurden von der undogmatischen Linken breit rezipiert. Tatsächlich reagierten die sozialen Bewegungen, wie der kritische Sozialpsychologe Peter Brückner betonte, »eher auf lebensweltliche Folgen der Industrialisierung als auf die mit den Eigentumsverhältnissen gesetzte Ausbeutung und eher auf den Druck des modernen Nationalstaats auf Zentralisierung und soziokulturelle Homogenität als auf die Unterdrückung einer Klasse.« (Brückner 1976, S. 10) Lefebvres Machtanalyse der »westlichen« Demokratie, die ihm zufolge weitgehend auf offene Gewalt verzichten konnte, indem sie die Zwänge und Disziplinierungen in die Subjekte hinein verlagerte (»Autorepression«), schien mit der Gesellschaftskritik der Frankfurter Schule zu korrespondieren. Die Alltagskritik des französischen Philosophen wurde vor allem im Rahmen materialistisch orientierter Sozialisationsstudien systematisch diskutiert. Vertraut mit den Kulturindustrie-Thesen der Kritischen Theorie, ergaben sich für viele Intellektuelle Anschlussmöglichkeiten zu den Reflexionen von Lefebvre (vgl. Ronneberger 2008).
Seine Thesen zu Stadt und Raum erlangten hingegen keine vergleichbare Aufmerksamkeit. Sie wurden bis weit in die achtziger Jahre – von wenigen Ausnahmen abgesehen – weder im deutschen noch im englischen Sprachraum ausführlich diskutiert. 11 Lefebvres Definition des »Städtischen« stieß bei der scientific community auf Unverständnis oder gar Ablehnung. Gerade in der Theoriebildung der deutschen Sozialwissenschaften herrschte das Geschichtliche und Zeitliche vor, während die Kategorie »Raum« nach den Erfahrungen mit dem Faschismus (»Volk ohne Raum«, »Großraumpolitik « etc.) einer epistemologischen Beschränkung unterlag, die lange nachwirkte. Kritisch orientierte Sozialwissenschaftler wollten bei ihren Analysen der Räumlichkeit gesellschaftlicher Beziehungen nicht in die Falle einer geographischen Naturalisierung des Sozialen geraten: Die Transformation des sozialen Raums in den angeeigneten physischen Raum musste aus der räumlichen Verteilung öffentlicher und privater Ressourcen abgeleitet werden, die bestimmte gesellschaftliche Machtverhältnisse widerspiegelte. Im Fokus stand deshalb die Auseinandersetzung mit den ökonomischen, politischen und soziokulturellen Praktiken, die letztlich auch die Räumlichkeit sozialer Prozesse erklärten. Dabei blieb allerdings unberücksichtigt, dass die Macht räumlicher Anordnungen wiederum selbst einen sozialen Sinn produziert, der sich nicht aus dem Kontext sozialer Beziehungen erklären lässt. Gegenüber anderen stadtsoziologischen Ansätzen, die die symbolische und imaginäre Dimension bei ihren Raumforschungen oft vernachlässigten, versuchte Lefebvre der Komplexität gesellschaftlicher Räumlichkeit gerecht zu werden (vgl. Ronneberger 2010).
Im Gegensatz zur Bildungssoziologie gelangte das Denken der Kritischen Theorie nur marginal in die Wissensbestände der urbanistischen Disziplinen. Zwar gab es in den siebziger Jahren eine Reihe von stadtsoziologischen Ansätzen, die sich auf marxistische Kategorien stützten, allerdings dominierte dann eine Kapital -Exegese, die letztlich alle Phänomene der Stadtentwicklung aus dem Wertgesetz abzuleiten versuchte. Lefebvres Zurückweisung des Ökonomismus, seine Grundannahme, dass die gesellschaftliche Totalität nur fragmentiert zu erfahren und zu erfassen sei, sowie die bewusst unsystematisch angelegte Begrifflichkeit seines Werks (im Fall von La révolution urbaine durch eine wenig kompetente Übersetzung verstärkt) schreckten deshalb auch kapitalismuskritische Stadtsoziologen davon ab, Überlegungen des französischen Raumtheoretikers in ihre Arbeit miteinzubeziehen.
In den achtziger Jahren ergab sich mit der deutschen Veröffentlichung von David Harveys Essay »Flexible Akkumulation durch Urbanisierung« (1987) nochmals die Gelegenheit, die komplexe Raumtheorie von Lefebvre – wenn auch indirekt – zur Kenntnis zu nehmen. Allerdings vollzog die Urbanistik in der Bundesrepublik damals gerade einen Paradigmenwechsel: Politökonomische Erklärungsmodelle verloren zunehmend an Bedeutung und wurden zugunsten eines »Kultur-Dispositivs« an den Rand des »Wahren« gedrängt. Die Öffnung der urbanistischen Disziplin für postmoderne Konzepte erfolgte jedoch unter weitgehender Ausblendung damit verbundener diskurs- und symbolanalytischer Verfahrensweisen. Insbesondere der Bereich des Macht-Wissens-Komplexes (Foucault etc.) blieb (und bleibt) im Mainstream der deutschen Stadtforschung eine Leerstelle. Auf diese Weise fiel Lefebvre, der »romantische Revolutionär« (Kurt Meyer), doppelt durchs Raster: Mit der wachsenden Institutionalisierung sozialer Bewegungen (z. B. Die Grünen) und dem Verebben militanter Kämpfe ließ das Interesse an einer grundsätzlichen Staats- und Gesellschaftskritik nach. Und in der Stadtforschung war Lefebvres Einfluss stets marginal gewesen. Der französische Philosoph, der hierzulande nie den Bekanntheitsgrad von Michel Foucault oder Gilles Deleuze erreichte, wurde fast wie ein »toter Hund« behandelt.
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