Bevor er die Glastür zur Sicherheitskontrolle passierte, drehte er sich noch einmal um. Doch er schaute in fremde Gesichter. Ursula war weg. Sie war schluchzend aus dem Gebäude gestürmt, als er seinen Pass dem Beamten des Bundesgrenzschutzes überreichte.
Oft beginnt und endet ein Doppelleben am Flughafen. Nicht immer ist es für Außenstehende erkennbar, was gerade vor sich geht. Wie bei dem Mann und seiner Frau, die händchenhaltend auf den Check-in-Automaten zumarschierten. Eine alltägliche Szene. Sie steckte routiniert ihre Karte hinein, drückte abwesend die Tasten, heraus kam ihr Boardingpass. Beide hielten sich eine ganze Zeit umarmt, küssten sich, lächelten. Er sagte: »Ich hol dich dann morgen ab, Schatz« und »Ich werde dich vermissen«. Dann verschwand sie durch die Sicherheitskontrolle und er ging zurück zum Auto. Sie war noch nicht durch die Kontrolle, da zückte er schon sein Handy und ich hörte folgenden Satz: »Sie ist bis morgen Abend weg. Wir können endlich wieder die ganze Nacht zusammen verbringen. Ich bin um sechs bei dir.«
Der Flughafen hält viele solcher Geschichten bereit. Mal sind es die Frauen, die ihren Partner lächelnd belügen, mal die Männer. Aber zum Glück gibt es auch sie noch: die wahre Liebe.
Zuerst habe ich sie kaum wahrgenommen, den Punk-Jungen und das Mädchen. Sie waren jung, vielleicht grad mal achtzehn. Seine Frisur fiel mir auf, sein schöner Irokese. Nicht zu lang und nicht zu kurz, hart wie ein Brett, und er stand ihm sehr gut. Die beiden hielten Händchen, während sie in der Check-in-Schlange nach London warteten, während sie gemeinsam ihren Koffer auf das Förderband hoben, während sie ihre Boardingkarte entgegennahm, während sie sich immer und immer wieder küssten. Sogar in der Schlange zur Passkontrolle ließen sie einander nicht los. Bis der Polizist an der Passkontrolle sagte: »Junger Mann, Sie dürfen ohne Boardingkarte nicht weiter.«
Er schien aus einem Traum zu erwachen, verwirrt, leicht benommen. Er zerrte das Mädchen zur Seite, griff in seine Jackentasche, zog eine zerfledderte rote Rose heraus und überreichte sie. »Oh, thank you, but they won’t let me take this home to New York.« Sie gab ihm die Rose zurück und bat ihn, sie für sie bis zu ihrer Rückkehr aufzubewahren. In diesem Moment fing er an zu weinen. Er sagte nichts, hielt ihre Hand und weinte, weinte, weinte. Sie löste sich von ihm, ging durch die Sicherheitskontrolle, winkte ihm immer wieder zu. Der Junge winkte mit der Rose zurück. Tränen liefen ihm die Wangen hinunter. Als sie an der anderen Seite der Glastür angekommen war, legten sie ihre Hände an der Scheibe aneinander.
Sie war die Letzte, die in das Flugzeug stieg. Die Dame vom Check-in legte ihr die Hand auf die Schulter, zog sie sanft von der Glasscheibe weg und begleitete sie zum Korridor. Sie war schon außer Sichtweite, als er wieder anfing, ihr mit der Rose nachzuwinken, tränenüberströmt, ohne einen Laut von sich zu geben.
Die Anzeigetafel zeigte an, dass der Flug nach London um 8 Uhr 25 gestartet war. Die Flugzeit nach London betrug eine Stunde und 54 Minuten, von London nach New York waren es sieben Stunden und 52 Minuten. Ich sah dem Jungen mit dem Irokesen noch eine Zeit lang zu, dann widmete ich mich erneut meiner Arbeit. Als ich gegen Schichtende wieder an dem Gate vorbeikam, war es 17 Uhr. Der Check-in quoll über. Ich wollte gerade einem gigantischen Koffer ausweichen, als ich über den Köpfen eine rote Rose erblickte. Ich traute meinen Augen nicht: Der Junge stand immer noch an der Glasscheibe und winkte seiner Freundin nach. Er war blass, seine Augen glänzten, nur sein Irokese zeigte sich völlig unbeeindruckt immer noch von seiner besten Seite. Ich rechnete nach. In etwa einer Stunde würde ihr Flugzeug zum Landeanflug auf New York ansetzen. Ich kämpfte mich durch die Menschenmenge und reichte ihm ein Taschentuch. »Sie wird in sechzig Minuten in New York landen.« Sein Blick glich dem eines Schlafwandlers, der gerade geweckt worden war. Er ließ die Hand sinken. Er sah mich an, nahm das Taschentuch und lächelte. »Dann können wir in zwei Stunden schon miteinander telefonieren!« Und rannte weg.
NEUE PERSPEKTIVEN NACH 1989
Euphorie pur! Ich hatte das Glück, dabei zu sein und aus nächster Nähe mitzuerleben, wie die traurige Geschichte der Teilung eines Landes zu Ende ging. Wie das Unmögliche von einer Vielzahl friedlicher Bürger möglich gemacht wurde: Eine Mauer wurde von Menschen zum Einsturz gebracht! Wir wurden 1989 Teil einer der wenigen friedlichen Revolutionen der Weltgeschichte.
Die Auswirkungen des Mauerfalls haben das Schicksal unzähliger Menschen beeinflusst. Und auch den Flughafen Tegel in vieler Hinsicht von Grund auf verändert.
Die essenziellste Veränderung war, dass Berlin endlich seine Tore für die größte deutsche Fluggesellschaft, die Lufthansa, öffnen durfte. Der Lufthansa war es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gestattet, West-Berlin anzufliegen, nun endlich konnte auch der blaue Kranich in Tegel einziehen. Die meisten Menschen freuten sich darüber, doch es flossen auch bittere Tränen. Lufthansa übernahm die Linienflüge der Pan Am, was für die meisten Pan-Am-Mitarbeiter das Ende ihrer Laufbahn bei der amerikanischen Fluggesellschaft bedeutete. »Nach der Wende, als Lufthansa übernommen hatte, kamen wir fast alle zu B.L.A.S., Berliner Lufthansa Airport Service«, erzählt Jamie Brian, der tief im Innern bis heute einer von Pan Am geblieben ist. »Das Handling-Unternehmen war im Auftrag der Lufthansa für die Abfertigung der Flüge in Tegel zuständig. Ich und einige wenige Kollegen hatten Glück. Wir wurden von der Lufthansa übernommen. Aber für die Mehrzahl unserer Pan-Am-Kollegen im Abfertigungsbereich, die von Airlinern zu Handling-Agenten wurden, war es ein Abstieg: schlechtere Arbeitsbedingungen, weniger Handlungsfreiheit, weniger Kompetenzen. In den ersten Tagen haben wir am Schalter geweint. Erwachsene Flugfahrt-Profis in Uniform, die sonst schwer zu schocken waren, haben geweint wie kleine Kinder.«
Auch Jamies Kollege Dieter erinnert sich ungern an diese Zeit. »Wir hatten Schwierigkeiten mit der Lufthansa, große Schwierigkeiten. Die Lufthansa hat einen Leitsatz geprägt: ›Wir sind hier, um zu dienen!‹ Irgendwie so. Da haben wir und unsere Pan-Am-Kollegen gedacht: Die haben wohl eine Meise! Von wegen, wir sind hier, um zu dienen! Wir waren da, um den Kunden Service zu bieten, logisch, das war immer unser Anliegen. Nicht nur technisch das Handwerk zu beherrschen, sondern auch motiviert zu sein und das Beste zu geben im Umgang mit den Passagieren … ›Wir sind da, um zu helfen!‹ Das war unsere Auffassung. Die Handhabung der Übernahme, also die Frage, wer von der Lufthansa und wer von der B.L.A.S. übernommen wird, wurde ohne jedes Fingerspitzengefühl organisiert. Um die neuen Uniformen abzuholen, mussten wir nach Frankfurt fliegen. In Berlin hatten sie keine.« Jamie schüttelt den Kopf. »Meine Kollegen bei der B.L.A.S., mit denen ich jahrelang zusammengearbeitet hatte, mussten auch nach Frankfurt. Wir bekamen alle die gleichen grauen Jacken, mit Knöpfen, auf denen der Kranich, das Symbol der Lufthansa, abgebildet war. Denjenigen, die bei der B.L.A.S. angestellt wurden, hat man die Kranich-Knöpfe in kurzem Prozess vor Ort vom Jackett abgeschnitten und andere draufgenäht. Es war degradierend und beschämend«, erinnert sich Jamie. Die Aufteilung der Mitarbeiter spiegelte sich in den Uniformen wider, doch die beiden Firmen, Lufthansa und GlobeGround Berlin, waren und blieben lange und gute Weggefährten.
Am Flughafen bedienten sich viele der Fluggesellschaften in den darauffolgenden Jahren des Modells des Outsourcings. Bis in die letzten Tage Tegels hat diese Entwicklung kein Ende genommen. »Es ist jetzt so weit gekommen, dass man kaum noch einen Mitarbeiter am Flughafen findet, der direkt bei einer Fluggesellschaft angestellt ist. Der Lufthansa-Ticketschalter mit hauseigenen Fluggesellschaft-Angestellten ist einer der letzten Mohikaner in Tegel. Sonst läuft alles über Zweit- und Drittfirmen«, sagte uns Jamie vor einigen Jahren. Auch das ist mittlerweile Vergangenheit. Er fügte hinzu: »Das Ziel ist: Verträge mit schlechteren Konditionen, schlechtere Bezahlung. Das Ergebnis: schlechter qualifizierte, weniger motivierte Mitarbeiter, schlechter Service. Um es plump auszudrücken: Kasse statt Klasse. Zugegeben, diese Entwicklung findet in allen Bereichen der Arbeitswelt statt, nicht nur am Flughafen. Doch in Tegel fing es nach der Wende an.«
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