Kopfschüttelnd ging ich einige Schritte weiter. Um die zwanzig Berufsfahrer saßen auf der Heizung im Gang. Einige kauten ihre Brote, andere tranken Kaffee aus der Thermosflasche. Die meisten spielten Karten. Gleichzeitig schauten sie in meine Richtung hoch und nickten mir zu. Ich nickte zurück. Die Männer saßen jeden Tag hier und warteten auf Regierungsbeamte aus Köln-Bonn. Seit Jahren kamen sie jeden Morgen zum Flughafen, um ihren Fahrgast abzuholen, spielten Karten und hatten hier, auf der Heizung, eine zweite Familie gefunden. Die Maschine landete, sie packten ihre Habseligkeiten ein. Morgen würden die Karten neu gemischt.
Etwas abseits fiel mir ein anderer Fahrer auf, ein einsamer Mann mit weißen Handschuhen. Kerzengerade wartete er mit professionell versteinerter Mine. Im Hintergrund hörte ich aus dem Lautsprecher eine ermahnende Stimme: »Der Fahrer des Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen B-S 401 wird gebeten, sofort zu seinem Fahrzeug zu kommen!« Ich hätte gern erfahren, wen dieser feine Chauffeur abholte, und pirschte mich näher heran: Mr Moukhtari stand auf dem Schild, das er unbewegt hochhielt. Dem Namen nach stammte der Erwartete vermutlich aus Marokko. Die Durchsage wiederholte sich, mit schärferer Stimme und etlichen Ausrufezeichen. Vom Blitz der Erkenntnis getroffen, rannte der Handschuh-Chauffeur hinaus. Eine Sekunde später trat aus dem Ankunft-Gate eine nordafrikanische Familie. Alle sahen sich suchend um. Nachdem der Mann nervös nach allen Seiten Ausschau gehalten hat, ließ er seine Frau und das Baby stehen und wollte den Gang nach demjenigen absuchen, der sie abholen sollte. Ich trat an ihn heran. »Mr Moukhtari?« In diesem Augenblick kam der Fahrer schon zurück. Er verlangsamte seine Schritte, blieb kerzengrade vor dem Herrn stehen und hob sein Schild. Man merkte ihm die Aufregung der letzten Minuten nicht an, er war jetzt wieder der perfekte Chauffeur. Er geleitete die Familie zu seinem Auto, das er vermutlich gerade vorm Abschleppen gerettet hatte.
Zufrieden begab ich mich zum nächsten Gate und entdeckte dort einen weiteren Mitarbeiter. Ich wartete, bis er das Interview beendete. Ein älteres Ehepaar blieb ebenfalls genau hier, dicht neben mir, stehen. Der Mann hatte den Kopf einer Bulldogge und einen riesigen Schnurrbart. Ein fetter Dickwanst mit ausgebeulten Hosen und der dazu passenden Safari-Outdoor-Weste für scheinaktive Rentner. Seine Frau war winzig, nur Haut und Knochen, und wog samt Koffer höchstens vierzig Kilo. Es wunderte mich wenig, dass ihr offensichtlich irgendwann der Appetit vergangen war, da ihr Mann sie pausenlos schikanierte. Wegen jeder Kleinigkeit wurde sie angeraunzt. Sie sagte, sie musste auf die Toilette, er segnete das tatsächlich mit einem »In Ordnung!« ab. Ihre Abwesenheit dauerte länger als eine ausgedehnte Pinkelpause. Der Mann schaute ständig auf die Uhr und wurde sichtlich unruhig; er konnte es anscheinend nicht ertragen, die Kontrolle über seine Gattin verloren zu haben. Unruhig lief er hin und her. Minuten später tauchte sie wieder auf. Als er sie nur von Weitem sah, hob er die Faust und schüttelte sie. Kaum war seine Frau bei ihm angekommen, schlug er sich die Faust in die Handfläche. Mein Gefühl sagte, wenn die beiden nicht unter Menschen gewesen wären, hätte er zuschlagen. Die Frau ertrug alles, ohne eine Miene zu verziehen. Sie war gar nicht in der Lage, eine Miene zu verziehen, denn von den vielen Gesichtsoperationen und Unmengen von Botox war ihr jede Mimik abhandengekommen. Auch eine Möglichkeit, immer cool zu bleiben. Zumindest äußerlich.
Hinter mir auf der Heizung saßen drei ältere Frauen in sichtlicher Reisevorfreude. Kichernd unterhielten sie sich. Ich schnappte auf, dass sie seit dreißig Jahren jährlich eine kleine Freundinnen-Reise unternahmen. Es wurde Zeit für sie, ins Gate zu gehen. »Connie, hast du genug Wasser getrunken?« »Ja.« »Und hast du deinen Blutverdünner genommen?« »Vorhin schon.« »Sind deine Stützstrümpfe eingepackt?« »Im Handgepäck.« Die drei waren gerüstet gegen jegliche Gefahr von Thrombose und bereit, einen langen, weiten Flug anzutreten. Sie verschwanden im Gate nach Düsseldorf.
Ich stapfte weiter den Gang entlang und stolperte fast über einen am Boden schlafenden jungen Mann. Nichts Seltenes. Neulich zum Beispiel schlief eine komplette italienische Schulklasse auf dem Boden: nach Alkohol muffelnd, Arm in Arm, Bein an Bein, Hintern an Hintern, mit unschuldig seligem Lächeln auf den Lippen. Die leisesten Italiener, die ich je gesehen hatte. Ständig traf man in Tegel auf irgendeinen Obdachlosen, der hier oder da schlummerte, doch noch nie hatte ich einen Schlafenden vor einem Ankunft-Gate, mitten im Durcheinander der Wartenden gesehen! Er lag auf dem Bauch und schlief tief und fest. Ein gut angezogener junger Mann mit angesagten Markenklamotten. Ich überlegte, ob er Hilfe brauchte. Die Passagiere rieselten langsam aus dem Gate. Da kam eine junge Frau zu ihm, legte ihre Tasche ab, fing an, ihn sanft zu streicheln und wachzuküssen. Leise flüsterte sie ihm zu »Ich bin gelandet.« Lächelnd öffnete er die Augen, sie umarmten sich, standen auf und gingen. Vermutlich nach Hause, um weiterzuschlafen.
Nicht alle Landungen und Ankünfte waren so sanft. Eine Mutter und ihr kleines Kind stürmten aus dem Gate. Passend zum Kleid der Mutter schimmerte das Gesicht des Mädchens purpurrot. Plötzlich wurde es gelb, dann grün. Sie rannten zum nächsten Mülleimer. Die Mutter schaute noch schnell auf die Aufschriften – Restmüll – Papier – Kunststoff – und schob den kleinen Kopf in letzter Sekunde über den Restmüll. Einen Augenblick später erbrach das Mädchen. Reiseaufregung. Pepe, der Securitas-Mitarbeiter am Ausgang des betroffenen Ankunft-Gates, telefonierte schon nach einer Reinigungskraft.
Zeit zu gehen, dachte ich. Als ich mich umdrehte, flitzte ein kleiner Junge an mir vorbei und verschwand durch die sich gerade öffnende Tür im Sicherheitsbereich. Pepe hatte wieder den Telefonhörer in der Hand, die Eltern redeten verzweifelt auf ihn ein. Sein Blick schien sie zu beschwichtigen. »Ich darf leider die Kontrollstelle nicht verlassen, aber ich habe gerade Hilfe gerufen. Wenn der Kollege da ist, hole ich den Kleinen sofort zurück.« Zum Glück zeigten die Eltern Verständnis. Der Junge konnte ja dort nicht raus, er würde mit einem Schreck davonkommen. Es gab Eltern, die sich mit Gewalt Zutritt zum Sicherheitsbereich verschafften, um ihre Kinder zu holen. Pepe sagte: »Wir hatten hier wirklich schon alles. Die komplette Palette.«
Einige Schritte weiter wurde es wieder ruhiger, die Menschentrauben vor den Ankunftstüren hatten sich aufgelöst, die Abflug-Gates waren geschlossen. Kurze Atempause. Kinder spielten im Gang mit ihren Fernlenkautos. Ein Geschäftsmann wurde von einer vorbestellten Taxifahrerin ein wenig verspätet abgeholt. »Wo waren Sie denn?« Sie war erstaunt über seine Gereiztheit. »Ich stand im Stau. Habe versucht, Sie anzurufen, aber konnte Sie nicht erreichen!« »Ich saß ja auch im Flieger.« Schweigend verließen sie den Flughafen.
Wie undankbar. Ich habe unzählige Reisende getroffen, die hier ankamen und dann festhingen. Die gar nicht abgeholt wurden. Die verzweifelt versucht haben, zu telefonieren und ihre Kontaktperson in Berlin zu erreichen. Die Telefonzellen in Tegel waren oft defekt. Seit ich einen Handyvertrag mit Flatrate hatte, lieh ich mein Mobiltelefon tagtäglich den sitzen gelassenen Ankömmlingen. Ich tippte die Nummer immer persönlich ein. Die Berlin-Gäste konnten dann gemütlich alle Einzelheiten klären.
Herrlich, wenn der volle Gang nach Stoßzeiten leer wurde. Jetzt ein Espresso! Es war kein Zufall, dass dieser Gedanke sich meiner genau vor der Illy Bar bemächtigte, das hatte ohne Zweifel mit Pawlowschen Reaktionen zu tun. Ich bestellte einen Espresso. Die Bar war jetzt fast leer, nur eine Frau und ein Mann saßen nebeneinander an einem Tisch, beide tief in die Beschäftigung mit ihrem Smartphone versunken. Sie saßen zusammen, doch jeder für sich in seiner eigenen Welt. Dann legte die Frau ihr Smartphone weg, lächelte den Mann an. Ich war erleichtert, die Welt war doch nicht verloren, die Menschen konnten auch noch miteinander! Ich hoffte, dass sie sich endlich unterhalten würden. Aber nein, ohne ein Wort von sich zu geben, richteten beide ihre Blicke – immerhin gemeinsam – auf das Smartphone des Mannes.
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