So sehr der Flughafen Tegel geliebt wurde, so sehr wurde er in den letzten Jahren vor seinem Ende geringgeschätzt. Der einst tollste Flughafen der Welt war zum Schmuddelkind geworden. Lange Schlangen, Wartezeiten – ein überfülltes Provisorium aus einer Zeit, in der das Fliegen noch bedeutsam war. Er hat es nicht verdient, so in Erinnerung zu bleiben. Deshalb wollen wir mit diesem Buch daran erinnern, was Tegel ausgemacht hat und warum dieser Flughafen besonders war. Wir sind sicher, viele Fluggäste können unsere sentimentalen Gefühle nachvollziehen. Denn viele verbinden mit Tegel schöne, dramatische und weltbewegende Ereignisse.
Berlin gewöhnte sich langsam daran, dass die Berliner Ikonen, der Fernbahnhof Zoo oder die Berliner Fluggesellschaft Air Berlin, verschwunden sind. Das nächste unvorstellbare Ende wurde unausweichlich: der emotionsgeladene Abschied vom Flughafen Tegel. Und auch wir wurden emotional. Denn das Phänomen Tegel und die Seele des Flughafens lassen uns nicht los.
Als wir in der harten Phase des Covid-Lockdowns im April 2020 den Airport besuchen durften, fanden wir ein vollständig leeres Hauptgebäude vor. Es war noch gespenstischer, als 2010 beim Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull, denn eigentlich durfte niemand mehr das Terminal A betreten. Unsere Schritte hallten laut, als wir durch die menschenleeren Gänge schritten. Ohne Betrieb, ohne die Menschen war Tegel nur noch ein Gebäude. Es war beklemmend. Für uns fühlte es sich an wie die Generalprobe für die Schließung, das endgültige Aus für Tegel.
Einmalig in Tegel: vom Taxi direkt zum Gate
Nun werden die Dauerflieger nie mehr nur knappe dreißig Minuten vor dem Abflug mit dem Taxi vorfahren können, um noch bequem ihre Maschine zu erreichen. Mit der Schließung des Hauptstadt-Flughafens ging eine Ära zu Ende. Eine Ära voller Geschichte und Geschichten. Wir durften Teil dieses einzigartigen Lebensgefühls werden. Wir haben über fünfundzwanzig Jahre dort gearbeitet und Kurioses, Menschliches und Herzergreifendes erlebt. Wir kannten nicht nur jedes Eckchen des Gebäudes, wir verbanden mit jedem Winkel auch Geschichten, die in uns lebendig geblieben sind. Denn das Faszinierendste am Flughafen Tegel war seine Lebendigkeit.
Damit diese Lebendigkeit, die Erinnerung nicht verloren geht, haben wir unser Buch geschrieben, überarbeitet, ergänzt, aktualisiert. Selbst wenn jetzt keine Flugzeuge mehr hier starten oder landen, für uns bleibt es dabei: Wir fliegen auf Tegel.
Evelyn und Julia Csabai
EINMAL RUND UMS TERMINAL
Es war ein Freund, der gerade seine Doktorarbeit schrieb und mit einem Nebenjob am Flughafen das nötige Geld dafür verdiente, durch den wir nach Tegel kamen: Wir sollten in seinem Team Passagierumfragen am Flughafen durchführen. Es war die perfekte Tätigkeit für uns. Wir mussten nur zweimal in der Woche arbeiten und hatten genug Geld zum Studieren. Wir lernten viele Menschen kennen, die sich in einer ähnlichen Situation befanden wie wir: Freiberufler, Künstler, Studenten, Doktoranden, Menschen eben, die Geld brauchten, um ihre Ideen und Wünsche zu realisieren. Für uns war klar, dass wir den Job nur vorübergehend machen würden. Doch es kam anders.
Wir arbeiteten weiter und immer weiter am Flughafen, weiß man doch im künstlerischen Bereich nie, ob der nächste Auftrag kommt oder die nächste Idee verkauft werden kann. Obwohl wir manchmal über Monate nicht in Tegel waren, sind wir immer wieder zurückgekehrt. Schon bald wurden wir Teamleiterinnen und koordinierten gemeinsam die Einsätze. Der Job in Tegel war aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken. Der Flughafen und die Menschen, die dort arbeiteten, die Passagiere, unser immer größer werdendes Team. Die Besucherterrasse, die Ansagen, der Kerosingestank. Die Rollkoffer, das Gedränge, der Cheeseburger-Geruch. Die Penner, die Flaschensammler, die Kaffeeverkäufer. Die Klofrauen, die blonden Damen von der Lufthansa, die brünetten von der Air France. Unsere Tage am Airport wurden unbemerkt eine Sucht.
Es wurden fünfundzwanzig Jahre, in denen wir Schwestern gemeinsam lustige, traurige und einfach interessante Geschichten miterlebt oder gehört haben. Für dieses Buch haben wir uns entschieden, ganz zu einer Person zu werden und als gemeinsames »Ich« zu schreiben. Denn es sind nicht nur Julias Geschichten und nicht nur Evelyns Geschichten. Es sind unsere Geschichten, es ist unser Rückblick auf vergangene Zeiten.
Der Flughafen der kurzen Wege wurde immer wieder erweitert
Unser Team traf sich meistens unten im Terminal E, eine separierte Halle im Tiefgeschoss mit den reinen Ankunft-Gates 16 bis 18. Daneben befand sich das Bulky Baggage, dort mussten alle als Sperrgepäck deklarierten Gegenstände aufgegeben werden. In dieser unteren Ebene gab es eine ruhigere Ecke, die wir als Treffpunkt, als »Büro« und »Garderobe« benutzten. An diesem Ort saß ich stundenlang, um während unserer Einsatzzeit auf die abgelegten Jacken und Taschen unserer Belegschaft aufzupassen. Hier fanden mich meine Kollegen, wenn sie Fragen hatten, wenn es technische Fehler gab, wenn sie unerwartet Leerlauf hatten und neu disponiert werden konnten. Lange Tage verbrachte ich dort, mitten im Ankunftsgeschehen. Ich muss gestehen, dass ich selbst nach so vielen Jahren keine halbe Stunde bei der Ankunft oder beim Abflug einer Maschine ohne Tränen der Rührung zuschauen kann. Wiedersehen und Abschied sind am Flughafen so präsent, so existenziell, dass man das Gefühl hat, das Leben bestehe aus nichts anderem.
Abflug und Ankunft erlebte man in Tegel direkt und in einträchtiger Nachbarschaft. Während rechts nach einer letzten Umarmung und einem Kuss traurige Gesichter zurückblieben, strahlten links die Wartenden in erwartungsvoller Sehnsucht, die dem glücklichen Wiedersehen vorausgeht. Abschieds- und Freudentränen im großen Fluss der Reisen und Reisenden. Unweigerlich tauchte ich regelmäßig in diesen Fluss ein. Um meinen obligatorischen Rundgang anzutreten. Um zu sehen, ob bei meinen Mitarbeitern alles gut lief, ob sie Hilfe brauchten, Fragen oder Schwierigkeiten hatten. Wie es sich für eine gute Koordinatorin gehört.
Außergewöhnliche Architektur: das futuristische Sechseck
Ich bat eine Interviewerin, die gerade Pause hatte, auf unsere Siebensachen aufzupassen, während ich nach oben ging. »In einer Viertelstunde bin ich wieder da!« Dieser Satz ist eher eine Floskel gewesen, jeder von uns war sich im Klaren darüber, dass man es – wenn Tegel voll war – niemals schaffte, in nur fünfzehn Minuten die Runde zu machen. Und Tegel war meistens voll.
Ich verließ unsere Basis. Weit kam ich nicht. Aus dem Gate strömte gerade eine Schar von gelandeten Passagieren. Viele von ihnen blieben stehen, warteten auf weitere, die aus dem Gate traten. Es sammelte sich eine größere Gruppe, bunt zusammengewürfelt, ganz unterschiedliche Menschen, jede Generation war vertreten. Ihre Kleider waren farbenprächtig und wirkten eher wie eine Verkleidung. Innerhalb von Minuten verwandelte sich die Wartehalle in eine fröhliche Bühne. Einige jonglierten mit Bällen, Diabolos oder ihren Hüten. Jemand saß plötzlich auf einem Einrad und kreiste um seinen Gesprächspartner. Größere Kinder staksten auf Stelzen hin und her. Zwei Füße tauchten jäh vor meinem Gesicht auf. Sie gehörten einem Mann, der Distanzen bevorzugt im Handstand bewältigte. Ein Baby übte, auf der Handfläche des Großvaters stehend, das Balancieren. Verzaubert stand ich inmitten einer Arena. Mit der Maschine aus Oslo war eine Zirkus-Großfamilie angekommen. Die letzten Monate hatte sie in Norwegen verbracht, nun blieben sie alle eine Weile in Berlin und Umgebung. Die Sippe reiste mit dem Flugzeug von Auftrittsort zu Auftrittsort. Die Mehrheit flog, nur wenige fuhren die Zirkuswagen auf dem Landweg. Die Kinder flogen immer mit, für die Schulpflichtigen war eigens ein Lehrer dabei. So sieht moderne Zirkusromantik aus.
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