Nach meiner Einführung in die Tischsitten beschlossen die Ältesten, mir auch Verwandtschaft zu geben. Weil ich bereits verheiratet war, konnte ich nicht über eine Heiratsallianz integriert werden; deshalb gaben sie mir eine Mutter mit Namen Kopcherutoi, eine hoch angesehene weise Frau, die den Status eines Mannes, eines Bullen und rituellen Ältesten, besaß. Sie war bereits Urgroßmutter und trug einen Gürtel, der mit vier Reihen Kaurimuscheln geschmückt war. Jede Reihe stand für eine Generation von Nachkommen. Ich zog zu ihr auf den Berg Rimo und schlug mein Zelt neben ihrer Hütte auf. Wieder erhielt ich einen neuen Namen. Man nannte mich jetzt die »kleine Kopcherutoi«.
Weil Kopcherutoi meine Mutter geworden war, gehörte ich nun dem Teriki-Clan an und mein Totem war der Elefant. Mit einem Schlag hatte ich zahlreiche Verwandte und war in ein Netz aus Freund- und Feindschaften eingebunden. Als ich meine neue Verwandtschaft zu einem Fest einlud und Maisbier braute – was von der kenianischen Regierung verboten war, in den Tugenbergen aber überall getan wurde –, sagten Kopcherutoi und ihr Bruder Sigriarok: »Sie gibt uns zu essen, sie liebt uns!«
Tatsächlich wurde meine Teilnahme an offiziell verbotenen Bierfesten von den meisten Bewohnern Bartabwas mit einer gewissen Genugtuung gesehen. Gegen den Häuptling, der das staatlich verordnete Arbeitsethos durchsetzen sollte – aber so tat, als wisse er nichts von den morgendlichen Saufereien –, verbündete ich mich mit der anderen Seite, den Alten und den Habenichtsen. Wie ich später herausfand, war der Häuptling nicht sehr angesehen. Nicht umsonst war er die einzige Person in Bartabwa, die über eine beachtliche Leibesfülle verfügte. In der lokal geltenden, sehr einsichtigen Logik galt derjenige, der fett und reich war, als einer, der es den anderen weggenommen haben musste. Ich denke heute, dass meine Teilnahme an den eigentlich verbotenen Bierfesten dazu beigetragen hat, das Wohlwollen und Vertrauen der Ältesten zu gewinnen. Doch war damit der Affe als Teil meiner Person nicht völlig verschwunden. Er blitzte immer wieder in den Witzen auf, die die Ältesten erzählten. Als ich zusammen mit einer jungen Frau die Maisfelder bewachte, um Affen und Vögel vom Fressen der Ernte abzuhalten, habe mein äffisches Wesen die Affen so erschreckt, dass sie schnell wegliefen, erzählte Sigriarok, und alle anwesenden Verwandten schüttelten sich vor Lachen.
Ich erschreckte nicht nur Affen, sondern auch kleine Kinder. Mir fiel auf, dass sie bei meinem Anblick zu weinen und zu schreien begannen. Anfangs nahm ich das nicht persönlich, sondern sagte mir, die Kleinen hätten wohl Hunger oder Bauchweh. Doch dann erklärten mir zwei Frauen, ich sähe mit meinem wilden Haar – ich trug es lang und offen, eine Frisur, mit der ich eigentlich sehr zufrieden war – wie ein Monster aus der Wildnis aus, besonders wenn der Wind mein Haar bewege. Die Kinder, so sagten sie, schrien, weil mein Anblick so schrecklich sei. Ich musste feststellen, dass ich für die Bewohner der Tugenberge offensichtlich eine fremdkulturelle Zumutung war. Frauen trugen dort das Haar sehr kurz; allein in liminalen Phasen, während der Initiation oder nach einem Todesfall, ließen sie es wachsen.
Die beiden Frauen setzten mich auf einen Stuhl, und unter allgemeinem Zuspruch und Gelächter flochten sie mein Haar in zwei feste Zöpfe. Ich erlitt diese Demontage, unterwarf mich dem mir fremden Schönheitsideal und versuchte von nun an, mein Haar zu bändigen. Und tatsächlich hörten die Kinder auf zu schreien, wenn sie mich sahen. Gleichzeitig erfuhr ich aber auch, dass einige Eltern mich zur Disziplinierung einsetzten. Wenn die Kinder etwas Verbotenes getan hatten, drohten sie: »Mama Henry kommt und frisst dich!« Ich diente also als kannibalischer Kinderschreck. In der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts, die ich verschlungen hatte, beschrieben westliche Reisende Afrikaner mit Vorliebe als Kannibalen, die andere Afrikaner, aber auch Europäer, gerne in großen Töpfen kochten, um sie dann zu verspeisen. Nun wurde ich zur Belustigung der Erwachsenen und zum Schrecken der Kinder zu einem solchen Kannibalen erklärt. Ich sah mich gefangen in der komplizierten Wechselseitigkeit der Perspektiven und den sich ins Unendliche spiegelnden Bildern von Alterität.
Ich musste auch zur Kenntnis nehmen, dass nicht nur mein Haar, sondern meine ganze Person als hässlich empfunden wurde. Aus Sicht der meisten Bewohner der Tugenberge war ich viel zu dünn, mir fehlten die körperlichen Rundungen, die eine Frau schön und begehrenswert machen. Weil sich dort Reichtum und Wohlbefinden direkt in Fettleibigkeit und Körperfülle manifestieren – ein Ideal, das aufgrund von Armut und Hunger nur selten erreicht wurde –, erschien ich als armseliges, bedauernswertes Geschöpf. Auch war meine Nase zu groß. Meine Haut, so erklärte mir Kopcherutoi, sei viel zu durchsichtig und lasse nicht nur die Adern sehen, in denen das Blut fließt, sondern auch das rohe Fleisch. Sie schüttelte sich und lachte. Ich war offensichtlich auf eine obszöne Weise transparent, nackter als nackt und ließ Dinge sehen, die besser verhüllt blieben. Auch meine sich ändernde Hautfarbe, die nach einem Sonnenbrand von knallrot zu braunrot und dann zu bräunlich wechselte, gab Anlass zu Kommentaren und Witzen, die meine Eitelkeit verletzten und mein Selbstbild nicht unbedingt stärkten. Überhaupt verfügten meine sehr genau hinsehenden Beobachter über einen erstaunlichen Interpretationsreichtum, der den meinen bei Weitem übertraf und (leider) mit ihm nicht deckungsgleich war. Doch gerade weil ich ihren ästhetischen Vorstellungen so wenig entsprach und ihnen – zumindest anfangs – so fremd war, griffen sie auf ihre Regeln der Höflichkeit und Gastfreundschaft zurück, die mir über lange Zeiträume hinweg zu vergessen gestatteten, wie sie mich sahen. Ihre Wahrheitsliebe erlaubte ihnen nicht, mir (falsche) Komplimente zu machen. Aber wenn es genug zu essen gab, schoben mir die Frauen manchmal kleine Fleischstücke extra zu, damit ich »fett und ansehnlich« würde.
Obwohl ich gegen das Bild, das sie von mir hatten, letztlich nicht ankam, gewöhnten sich meine Verwandten, Nachbarn und vor allem die Kinder im Verlauf meiner Aufenthalte langsam an mich – und ich mich an sie. Ich passte mich an, veränderte mich in ihre Richtung und verlor wenigstens teilweise meinen exotischen Ausstellungswert. Meine vorsichtigen Vorstöße, mein Selbstbild ein Stück weit zurückzugewinnen, indem ich zum Beispiel das Haar wieder ein wenig offener trug und auf die Zöpfe verzichtete, wurden kommentarlos hingenommen.
Am Berliner Institut für Ethnologie hatte ich mit Adornos Kritik der empirischen Sozialforschung gelernt, der quantitativen Forschung grundsätzlich zu misstrauen. Ich stellte also den Ältesten, nachdem ich die wichtigsten Themen gefunden zu haben meinte, vor allem qualitative Fragen, und erst später begann ich, auch quantitativ zu arbeiten. Dass dies die passende Vorgehensweise war, wurde mir klar, als ich versuchte, die Kolonialzeit aus der Perspektive der Ältesten zu rekonstruieren. Denn wie mir Kipton erzählte, hatten die Europäer ihre Herrschaft mit der Forderung etabliert, dass die Bewohner der Tugenberge für »die Regierung« zu zahlen hätten. Regierungsbeamte oder die von ihnen eingesetzten Häuptlinge begannen, Rinder und Ziegen zu zählen. Sie zählten auch Häuser, Kinder und Erwachsene. Danach mussten die Gezählten Steuern zahlen, zuerst in Form von Naturalien, später in Form von Geld. Auch andere Älteste erzählten, dass das Gezähltwerden mit Zwangsabgaben und kolonialer Kontrolle einherging. Vielleicht als Reaktion darauf, vielleicht aber auch als bereits althergebrachtes Verbot versuchten die Bewohner der Tugenberge jegliche Form von Quantifizierung zu vermeiden. Zwar kannten alle die Anzahl der eigenen Ziegen, Rinder und natürlich auch der Kinder ganz genau, aber darüber zu sprechen oder sogar die Zahl zu nennen, galt nicht nur als unhöflich, sondern war geradezu eine Herausforderung, aus Neid dem Reicheren Schaden zuzufügen. Hätte ich also angefangen, die Häuser, Tiere und ich weiß nicht was zu zählen, dann hätte ich mich sehr direkt in die Tradition kolonialer Herrschaftspraktiken gestellt. Die Erhebung quantitativer Daten wäre auf Kosten jener Versenkung ins Detail erfolgt, die gerade den Reichtum und die Subversion ethnografischen Wissens ausmacht.
Читать дальше