Zum ethnografischen Unternehmen gehört wesentlich die Übersetzung. Sie stellte sich als ein überaus schwieriger Prozess heraus, nicht nur für mich, sondern für alle Beteiligten. Unsere Not war groß. Besonders anfangs wurde das Über setzen zu einem Über setzen an ein anderes Ufer, das kaum bekannt war. Es gab Irrfahrten und mitunter auch Schiffbruch. 8Manchmal wurde mir angesichts der unumkehrbaren Fremdheit zwischen den Sprachen schwindelig. Bevor ich Naftali Kipsang kennenlernte, hatte ich bereits in Kabartonjo mit einem jungen Mann als Übersetzer gearbeitet, der recht gut Englisch sprach und die Grundschule besucht hatte. Er war sehr freundlich und höflich und wollte mir vor allem gefallen. Seine Vorstellung von Übersetzung bestand darin, mir mehr oder weniger unabhängig von dem, was unser Gesprächspartner sagte, zu erzählen, wovon er meinte, es erfreue mich. Ich versuchte ihm zu erklären, dass es darum ging, möglichst genau – Wort für Wort – das vom Gesprächspartner Gesagte ins Englische zu übertragen, unabhängig davon, ob es mir gefiel oder nicht. Er verstand und war enttäuscht. Kipsang dagegen las englische Literatur und hatte sich mit dem Problem der Übersetzung durchaus beschäftigt. Er wusste auch, dass das Missverständnis wesentlich dazugehört. Meine Fragen verstand er auf seine Weise; manchmal übersetzte er sie so, dass die Antwort des Ältesten in nichts daran anknüpfte. Oder mein Gesprächspartner missverstand Kipsangs Übersetzung meiner Frage und antwortete entsprechend erratisch. Die Kette der Übersetzungen – der Fragen wie der Antworten – erinnerte mich oft an »Stille Post«, ein Spiel, das ich als Kind gern gespielt hatte. Es dauerte seine Zeit, bis wir in konkreten Sprachsituationen und Kontexten durch wechselseitiges Nachfragen, lange Diskussionen, Einübung und Wiederholung einen gemeinsamen Wortschatz aufgebaut hatten, der die Basis für neue Themen lieferte. Doch gerade die vielfältigen Missverständnisse ließen manchmal neue, unvorhersehbare Themen und Fragen aufscheinen, an die ich nie gedacht und die ich deshalb auch nicht hätte erfragen können. Tatsächlich ging es mir vor allem darum, vor dem Hintergrund von Benjamins Theorie der Übersetzung die fremde Sprache und ihre Übersetzung als eine Form von Produktion zu begreifen, die die Fremdheit nicht völlig auflöst, sondern als eine Art Ergänzung und Bereicherung in die eigene Sprache überführt, die ihrerseits verfremdet wird. Ich wollte also eine »Tugenisierung« und damit eine Bereicherung und Erweiterung der deutschen Sprache erreichen.
Um die richtigen Fragen zu finden, kam mir manchmal auch der Zufall zu Hilfe. So erfuhr ich anlässlich eines Streits von der zyklischen Geschichtsvorstellung der Ältesten, die sowohl ihre Lebenszeit als auch ihre Geschichte zu einem Kreislauf bogen, in dem sich die Ereignisse wiederholten. In der Literatur, die ich zur Vorbereitung gelesen hatte, war von dieser Geschichtsauffassung keine Rede; ich hätte also nicht danach fragen können. Zufällig, bei einer Unterhaltung einiger Ältester, erfuhr ich von ihrer Erwartung, dass die Europäer wieder ins Land kommen und die Regierung übernehmen würden. Ich fragte vorsichtig nach, und es stellte sich heraus, dass ich richtig verstanden hatte. Die Großmutter eines der Anwesenden hatte die Rückkehr der Europäer und damit die Wiederkehr der Kolonialzeit prophezeit. Mit dem schlechten Gewissen der Ethnografin, die um die Verstrickung von Kolonialismus und Ethnologie weiß, protestierte ich heftig und versuchte zu erklären, dass die Europäer kein Interesse daran hätten, Kenia erneut zu kolonialisieren. Mit meinem Einspruch machte ich mich unbeliebt; die Ältesten ärgerten sich. Einer von ihnen wies mich scharf zurecht und sagte, ich wisse gar nichts, bei ihnen in den Tugenbergen würden die Ereignisse nicht nur einmal geschehen, sondern zweimal, dreimal, viele Male. Darauf begann ich, mich für ihre Vorstellung von Zeit und Geschichte zu interessieren.
Die Bewohner der Tugenberge teilten ein zyklisches Altersklassensystem mit ihren Nachbarn, das nicht nur als Integrationsmaschine für die Aufnahme von Fremden diente, sondern auch wesentlich ihre Zeit- und Geschichtsvorstellung bestimmte. Das Altersklassensystem lieferte ihnen die Kategorien, ihre Gesellschaft und Geschichte zu denken. In den Tugenbergen gab es acht Altersklassen mit je einem eigenen Namen. Altersklassen sind soziale Gruppen, die Männer und Frauen hierarchisch gliedern und den Fluss der Zeit markieren. Mit der Initiation in eine der acht Altersklassen verordneten die Ältesten, »denen die Welt gehört«, die »soziale Geburt« von jungen Frauen und Männern unterschiedlichen Alters; als »Gleichaltrige« durchliefen sie dann zusammen die verschiedenen Stadien des Lebenszyklus. Nach etwa 100 Jahren, wenn alle Ältesten einer Altersklasse gestorben waren, wurden die Jungen, ihre Urenkel, in die verwaiste Altersklasse initiiert, und ein neuer Zyklus begann.
Gleichnamigen Altersklassen wurden gemeinsame Eigenschaften zugesprochen, zum Beispiel besonders friedfertig oder kriegerisch zu sein. Diese Eigenschaften wiederholten sich, wenn die entsprechende Altersklasse im nächsten Zyklus die Macht übernahm. Gleichzeitig wurden die jungen Mitglieder einer Altersklasse als Wiederkehr der alten angesehen. Und die Ältesten erwarteten, dass auch die Ereignisse, die zur Zeit der »Herrschaft« einer bestimmten Altersklasse stattgefunden hatten, sich im neuen Kreislauf wiederholen würden. In gewisser Weise geschah das auch, weil die Ältesten sie nach dem ihnen überlieferten Muster interpretierten und danach handelten.
Doch kannten sie auch eine Möglichkeit, dem Zwang der Wiederholung zu entgehen. Aingwo erklärte mir, dass die Ältesten auf otin – »Tradition«, »Vergangenheit« oder »Geschichte« – schlagen, so wie sie nach einem schlechten Traum auf eine Ziegenhaut zu schlagen pflegen, um durch den Lärm die Gedanken an den Traum zu vertreiben. Als im 19. Jahrhundert die Krieger der Altersklasse Maina eine katastrophale Niederlage erlitten, entschlossen sich die Ältesten listig, diese Altersklasse abzuschaffen, um eine Wiederholung der Katastrophe im nächsten Zyklus zu verhindern. Ihre Maßnahme hatte Erfolg, die Katastrophe blieb aus. Seither gibt es statt acht nur noch sieben Altersklassen.
Auch die Kolonialzeit wurde in die zyklische Geschichtsvorstellung integriert. Die »Entdeckung« der Europäer und der Beginn der Kolonialzeit fanden statt, als die Altersklasse Kaplelach an die Macht kam. Mir wurde erzählt, dass die ersten Begegnungen mit den Fremden ein Schock waren, aber keine Katastrophe. Denn die Ältesten nahmen die Ankunft der Europäer für die Wiederkehr der Sirikwa, einem geheimnisvollen Volk, das vor Hunderten von Jahren in die Tugenberge gekommen war. Die Sirikwa hatten Rinder und Eisen mitgebracht und waren nach einigen Generationen wieder verschwunden. Und genauso verschwanden auch die Europäer, die zweiten Sirikwa, Anfang der 1960er-Jahre. Doch, so sagte Sigriarok, habe sich mit dem Verschwinden der Europäer nicht viel verändert. Tatsächlich bezeichneten die Ältesten, wie bereits erwähnt, die postkoloniale kenianische Regierung mit demselben Namen wie die Europäer: chumbek . Offensichtlich war ihnen die eigene nationale Regierung genauso fremd wie die Europäer.
Aingwo erzählte, dass er erschrak, als er den ersten Europäer sah. Er hielt ihn für einen Ahnengeist. Der Europäer war weiß wie Salz, und man konnte das Blut sehen, das in den Adern durch seinen Körper floss. Noch mehr aber fürchtete sich Aingwo vor dessen Gewehr. Auch war der Europäer so fett, dass er annahm, dieser esse nicht nur Hirse, sondern auch Menschen.
Andere Älteste erzählten, dass die Europäer während der Kolonialzeit kreuz und quer durch ihre Berge zogen und dass sie einen großen Reichtum an Lebensmitteln besaßen. Doch sie tauschten nur selten. Sie gingen nicht auf die Jagd, und obwohl sie keine Frauen dabeihatten, weigerten sie sich – so beschwerten sich die Ältesten –, Frauen aus den Tugenbergen zu heiraten und über diese Allianz in die Gemeinschaft der Tugen aufgenommen zu werden. Man hielt sie für Spione, die das Land auskundschafteten, um später Verwandte nachzuholen und das Land zu stehlen. Wie mich, so nannten sie auch die Europäer, die lange vor mir bei ihnen aufgetaucht waren, »Affen«, weil sie aus der Wildnis kamen, herumzogen und keine Häuser bewohnten. Und sie nannten einige Europäer auch »Kannibalen«, »die Leute vom Haus mit dem großen Topf«. Es tröstete mich ein wenig, dass ich die Bezeichnung Affe (und Kannibale) nicht mehr nur persönlich nehmen musste.
Читать дальше