Auf einer Zeichnung, die südamerikanische Indianer vom Ethnologen Karl von den Steinen anfertigten, gaben sie seiner rechten Hand sieben statt fünf Finger. Auf seine Frage nach dem Grund dafür erklärten sie, sie hätten ihm zwei Finger extra gegeben, damit er sein ethnografisches Notizbuch besser halten könne. 6Auch in den Tugenbergen gehörte mein Notizbuch zu dem mehr oder weniger exotischen Bild, das sich die Bewohner Bartabwas von mir machten. »Wo ist dein Notizbuch?« war die erste und regelmäßig wiederholte Frage, die Aingwo und Kopcherutoi mir zu Beginn eines Gesprächs stellten.
Meistens schrieb ich direkt auf, was die Ältesten mir erzählten und Naftali übersetzt hatte. Abends in meiner Hütte ergänzte ich die Notizen und fügte Anmerkungen, Beobachtungen und Ideen zum Weiterdenken ein. Und ich listete neue Fragen auf, die ich bei der nächsten Begegnung stellen wollte. Daneben führte ich ein privates Tagebuch, das manchmal therapeutische Funktionen übernahm. Wenn das Heimweh zu stark war, meine Fragerei nichts erbracht hatte oder Kipsang oder ein Ältester mich hatte sitzen lassen, dann schrieb ich mir hier meine Enttäuschung von der Seele. Und gerade diese sehr subjektiven Eintragungen, die nicht in die publizierten Monografien Eingang fanden, erlauben mir jetzt im Prozess des Schreibens, mich als Objekt zu sehen, mich zu ethnografieren und mir als Fremde gegenüberzutreten.
Schriftlichkeit und damit alphabetische Herrschaft hatten einige der Ältesten bereits in den Missionsschulen kennengelernt. In den Gesprächen, die sie mit mir führten, nutzten sie das Wort kesir für die Tätigkeit des Schreibens. Kesir heißt so viel wie »ein beständiges Zeichen setzen«. Als zum Beispiel die koloniale Administration die Grenze zwischen Tugen und ihren nördlichen Nachbarn, den Pokot, mithilfe von Bäumen und Felsen festgelegt hatte, bezeichneten die Ältesten diese Grenzmarkierung als kesir . Wenn Männer die Ohren von Ziegen und Rindern einschnitten und mit dem Clan- oder Familienzeichen versahen, benutzten sie für diese Tätigkeit kesir im Sinn von »etwas in Besitz nehmen«. Während die im Alltag gesprochenen Worte allen gehörten, überführte das Markieren oder Aufschreiben sie in ein Besitzverhältnis. Wenn ich etwas aufschrieb (oder auf Tonband aufnahm), dann wurde das Geschriebene, ihr Wissen, mein Besitz. Dem entsprachen auch die Sorgen, die sich einige der Ältesten um ihre Worte und Geschichten machten. Sie fürchteten nicht nur, dass ich das Gesagte verdrehen und verfälschen könnte, sondern auch, dass ich es gegen viel Geld in Europa verkaufen würde und sie bei diesem Geschäft leer ausgingen. Die Überführung in Schrift schuf also eine asymmetrische Situation, einen ungleichen Tausch, bei dem sie sich als potenzielle Verlierer sahen. Deshalb überwachten sie nicht nur mich, sondern auch Naftali Kipsang und stellten auf diese Weise sicher, dass das, was ich aufschrieb, ihren Vorstellungen entsprach und sich innerhalb der Grenzen bewegte, die sie gesetzt hatten.
Das semantische Feld von kesir ist damit aber noch nicht erschöpft. Denn die Tätigkeit, die das Wort bezeichnet, verleiht auch eine bestimmte Autorität. Um mir die Macht von Asis, ihrem Gott, zu verdeutlichen, erklärte ein Ältester, dass dieser alles wisse, weil er alles aufschreibe. Da könne nichts verloren gehen. Ein anderer Ältester erzählte, dass die ersten Europäer, die die Tugenberge besuchten, alles in ein großes Buch schrieben und deshalb allwissendwaren. Schriftlich fixiertes Wissen wird nicht vergessen und erhebt wie Asis, der Gott der Tugenberge, Anspruch auf (göttliche) Wahrheit. Die ihnen seit der Kolonialzeit aufgezwungene alphabetische Herrschaft hinderte die Ältesten jedoch nicht, sie zu eigenen Zwecken zu nutzen. Mit der Erschaffung der Figur ihres alles aufschreibenden Gottes Asis beantworteten sie die Asymmetrie, die die alphabetische Herrschaft hervorgerufen hatte, mit einer machtvollen Gegen-Asymmetrie.
Während die Ältesten auf der einen Seite ihr rituelles Wissen vor mir zu schützen suchten, erkannten sie auf der anderen sehr wohl, dass meine Verschriftlichung und auch das spätere Filmen ihrer Rituale ihnen eine zusätzliche Autorität verlieh. Und nachdem ich immer wieder über viele Jahre zu ihnen zurückgekehrt war, trat ihre Sorge über den möglichen Diebstahl in den Hintergrund. Sie forderten mich nun aktiv auf, das aufzuschreiben, was ihnen wichtig war. Sie luden mich zu Ritualen ein, und Aingwo sagte: »Schreib das auf!«, oder er fragte Kipsang: »Hat sie diese rituelle Handlung mit allen Details aufgeschrieben?« Sie machten mich zu ihrer Chronistin, die durch Verschriftlichung das vor dem Vergessen bewahren sollte, was ihnen wichtig war.
Meine Verwandlung von einem Affen in eine »kleine Person« begann mit Einladungen zum Essen und Trinken. Gemeinsame Mahlzeiten machten aus mir, der Fremden, einen Gast. Die Gesetze der Gastfreundschaft und das gemeinsame Essen und Trinken garantierten ein friedliches Miteinander. Die Einverleibung derselben Substanzen näherte uns einander an und minderte unsere Fremdheit auch physisch. Zur Festigung des Bandes musste das gemeinsame Mahl öfter wiederholt werden. Ich erwiderte die Einladungen und war bald eingewoben in ein Netz von Beziehungen, in dem Gleiches gegen Gleiches – Tabak gegen Tabak, Hirsebrei gegen Hirsebrei und Bier gegen Bier – getauscht wurde.
Die Bewohner der nördlichen Tugenberge nannten ihr Land, wie gesagt, »das Land der Steine«. Die Erde war nicht besonders fruchtbar, der Regen fiel unvorhersehbar, und regelmäßig suchte der Hunger Menschen und Tiere heim. Die verschiedenen Hungersnöte wurden als »Hunger der vertrockneten Bäume«, »Hunger des Vogels Tuge«, »Hunger der Heuschrecken« oder als »Hunger des wilden Yams« erinnert. Das Motiv des Hungers und knapper Nahrung durchzog nicht nur die Geschichten der Ältesten wie ein roter Faden, auch in den Begrüßungsformeln und in den Tischsitten kam es zum Ausdruck. Mit der Frage: »Was essen die Großmütter heute?«, begrüßten sich ältere Frauen. Darauf gab es keine Antwort; es war eine rein rhetorische Frage, ein Gruß, der ins Leere lief. 7
Ich war als Nachkriegskind von meinen Eltern, die mir viel vom Hunger im Krieg und in den ersten Jahren danach erzählt hatten, dazu erzogen worden, Nahrung zu schätzen und aufzuessen, was auf den Teller kam. Als der Häuptling mich in Bartabwa das erste Mal zum Essen einlud – es gab Hirsebrei und Gemüse –, servierte seine Frau mir und den übrigen Gästen den Brei auf je einem Teller; ich aß meinen Teller leer. Mit Erstaunen stellte ich fest, dass alle anderen die Hälfte oder mindestens ein Drittel des Essens auf dem Teller liegen ließen und deutlich durch Rülpsen kundtaten, dass sie rundum gesättigt waren. Mir dagegen bot die Hausfrau noch einen Nachschlag an, den ich höflich ablehnte, weil ich satt war.
Später erklärte mir Kipsang, dass ich einen Fauxpas begangen hatte. In den Tugenbergen verlangen die Tischsitten, dass man niemals aufisst, was auf dem Teller liegt, weil das den Eindruck erweckt, man sei nicht satt geworden und wolle mehr. Außerdem gehören die Reste auf dem Teller der Hausfrau und den Kindern, die sie nach den Gästen essen. Weil ich meinen Teller geleert hatte, hatte ich mich wie ein Fresssack benommen und, schlimmer noch, den Anteil der Hausfrau und der Kinder aufgegessen.
Ich schämte mich sehr, bat Naftali, mich zu entschuldigen, und brachte der Frau des Häuptlings bei unserem nächsten Treffen einen Korb gefüllt mit Mais- und Hirsemehl mit. Ich lernte, dass in den Tugenbergen, gerade weil dort der Hunger oft so groß war, vor allem eines die Tischsitten bestimmte: Mäßigung. Niemals darf ein Hungriger zeigen, dass er hungrig ist, und Gefräßigkeit ist der Inbegriff schlechten Benehmens. Seither habe ich keinen Teller mehr völlig leer essen können.
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