Einem breiten Publikum sind psychologische Konstruktionsschwächen unserer Wahrnehmung und unseres Urteilsvermögens durch die Bücher des Psychologen Daniel Kahneman bekannt geworden. [4] Daniel Kahneman wurde 1934 in Tel Aviv geboren und lehrte an den Universitäten von Jerusalem, British Columbia, Berkeley und Princeton. 2002 wurde er zusammen mit Vernon L. Smith mit dem Wirtschafts-Nobelpreis ausgezeichnet. Es spricht einiges dafür, seine Bücher zur Pflichtlektüre in Schulen zu machen. Denn es ist gut zu wissen, womit wir zu rechnen haben, wenn wir unsere Sinneswahrnehmung und unser Urteilsvermögen gebrauchen. Immerhin benutzen wir beides jeden Tag ausgiebig. Es wäre ja auch gut zu wissen, dass die Bremsen des Autos, mit dem wir täglich fahren, bei Nässe sehr schlecht funktionieren und der Tacho die Geschwindigkeit stets zwanzig Prozent unterschätzt. Aber wer liest schon gerne Gebrauchsanweisungen?
Kahneman unterscheidet zwischen einem schnellen und einem langsamen System. Das schnelle System könnte man grob mit unserer spontanen Intuition, das langsame System mit rationalem Denken bezeichnen. Intuition führt zu leichten, subjektiv angenehmen Beurteilungsprozessen (Kahneman spricht von »kognitiver Leichtigkeit«). Das rationale System ist schwerfälliger und wird subjektiv als anstrengender erlebt.
Anders als wir selbst annehmen, basiert die Mehrzahl unserer Urteile auf dem schnellen intuitiven System oder wird durch dieses System zumindest maßgeblich beeinflusst – häufig sogar verzerrt. Der Vorteil des schnellen Systems ist – wie der Name schon sagt – seine Geschwindigkeit. Hier geht es nicht um Details, nicht um Genauigkeit. Im Gegenteil besteht das Prinzip gerade darin, viele Informationen wegzulassen, nicht zu analysieren, dafür aber sehr rasch zu urteilen. Demgegenüber hat das vernunftgeprägte Denken zumindest theoretisch den Vorteil, eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren zu analysieren und so zu genaueren Urteilen zu kommen. Der Preis dafür: Es braucht mehr Zeit und führt oft nicht zu eindeutigen Antworten. Hinzu kommt, dass auch das rationale System alles andere als »objektiv« arbeitet, sondern ebenfalls zu Verzerrungen und Fehlleistungen neigt. Es hat aber wiederum den Vorteil, dass es – zumindest potenziell – eine auf Einsicht basierende, größere Distanz zu subjektiven Verzerrungen entwickeln kann. Erinnern wir uns an das Beispiel der zwei Urzeitmenschen. Schematische, verzerrte und letztlich falsche Beurteilungen können je nach Situation und Ziel ein großer evolutionärer Vorteil sein.
Dass die Meinungen, die sich Menschen bilden, und die Art und Weise, wie sie handeln, primär das Resultat vernünftiger Überlegungen sind, wurde nicht erst durch die Forschungen Kahnemans und vieler seiner Kollegen erschüttert. Schon Arthur Schopenhauer leitete eine Wende gegenüber der in der Philosophie lange Zeit vorherrschenden Meinung ein, der Mensch sei ein vorwiegend durch die Vernunft gesteuertes Wesen. Schopenhauer sah nicht die Vernunft, sondern die Triebe – wir würden heute vielleicht eher von Affekten sprechen – als entscheidende Kraft an, die unsere Gedanken, Sehnsüchte und Handlungen prägt. Später sprach Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, von der archaischen Triebstruktur im Es , die weitgehend unbewusst ist. Das Ich als Vermittler zur Realität – unterstützt durch das Über-Ich (die Gewissensinstanz) – steht hier auf schwachen Füßen und ist nicht Herr im eigenen Haus.
Sowohl Schopenhauer als auch Freud kamen zu ihren Kenntnissen aufgrund genauer Beobachtung von Menschen und deren Verhalten – und das unabhängig von den in jener Zeit vorherrschenden Dogmen und Idealisierungen des Menschen und seiner Natur. Schopenhauer gab seinen Lesern einen praktischen Rat mit auf den Weg: Man solle versuchen, die unvernünftigen Triebe möglichst mit dem Verstand zu kontrollieren. Friedrich Nietzsche kehrte das später um. Er sah in den gängigen Idealen von Enthaltsamkeit, Askese, Liebe und Mitmenschlichkeit verlogenes Pathos, das es über Bord zu werfen gelte. Anstatt auf diese Werte setzte er auf den Willen zur Macht, der auf der egoistischen Selbstbehauptung beruht. Wir werden hierauf noch zu sprechen kommen ( Kap. 9.4).
Es ist jedenfalls das große Verdienst der experimentellen Wahrnehmungspsychologie, neben einer allgemeinen Skepsis gegenüber Wahrnehmung und Urteilsvermögen spezifische Konstruktionsschwächen – quasi in ihrer Mechanik – herausgearbeitet zu haben.
Nachfolgend werden einige Beispiele für typische Verzerrungen unserer Wahrnehmung und unserer Beurteilungen dargestellt.
Es handelt sich um ein klassisches, von Kahneman angeführtes Experiment, um die Arbeitsweise des intuitiven Systems zu demonstrieren. Es arbeitet schnell und schaltet sich unwillkürlich im Hintergrund ein. Das Ergebnis wird uns subjektiv auf angenehme Weise dargeboten, es fühlt sich leicht an.
Ein Schläger und ein Ball kosten zusammen 1,10 Euro. Der Schläger kostet einen Euro mehr als der Ball. Wie viel kostet der Ball?
Viele Menschen, denen man diese Frage stellt, antworten: 10 Cent. Das ist natürlich falsch. Denn wenn der Ball 10 Cent kostet und der Schläger einen Euro mehr, dann kostet der Schläger 1,10 Euro. Beides zusammen würde dann zusammen 1,20 Euro kosten.
Richtig ist: Der Ball kostet 5 Cent. Um das zu erkennen bzw. nachzuvollziehen, braucht es unser analytisches Denken. Sie merken vielleicht, dass man das Ergebnis nicht so bequem bekommt wie die erste Lösung. Analytisches Nachdenken (nach Kahneman System 2) wird subjektiv als mühsamer empfunden. [4, S. 61]
Wir tendieren dazu, Ereignisse als zwangsläufige Folge von Gründen zu interpretieren, die dem Ereignis aber erst im Nachhinein in dieser Weise zugeordnet werden. Das ist vergleichbar mit jemanden, der uns, nachdem die Lottozahlen gezogen wurden, die Gründe dafür erklärt, dass es so und gar nicht anders kommen musste.
Der Rückschaufehler führt zu einem Fehlurteil. Denn die Zwangsläufigkeit, die er suggeriert, ist eine Illusion. Sie zeigt aber, wie gerne wir abschließende Kausalketten mit einem klaren Ergebnis haben. Psychologisch ist das attraktiv. Wir fühlen uns kompetent, Dinge durchschauen und verstehen zu können. Das reduziert Unsicherheit. Wir haben im Gegenteil das Gefühl, in einer berechenbaren Umwelt zu leben, in der man nicht von Ereignissen überrascht wird. Denn wir wissen, was warum geschehen ist.
Das Phänomen lässt sich häufig bei Sportereignissen beobachten. Ein Fußballspiel wurde gewonnen oder verloren. Jemand wurde überraschend Weltmeister oder gerade nicht. Sofort erklären uns Experten, warum es genau so kommen musste, wie es kam. Überlegene sportliche Technik, mentale Stärke, der richtige Trainer, mannschaftliche Geschlossenheit und viele andere Gründe werden in einer differenzierten Analyse angeführt. Nun muss das eine oder andere gar nicht falsch sein. Oft ist aber die suggerierte Zwangsläufigkeit falsch. Denn fast immer handelt es sich im Sport nicht um ein vollständig determiniertes Ereignis. Das heißt, es gibt vor dem Ereignis meist keine 100-prozentige Wahrscheinlichkeit für einen Sieg oder eine Niederlage. Die Siegeswahrscheinlichkeit ist vor dem Ereignis vielleicht 90 Prozent oder 40 Prozent oder nur 0,2 Prozent. Häufig werden Zufälligkeiten oder die Tagesform ausschlaggebend sein oder das Ergebnis entspricht schlicht der statistischen Wahrscheinlichkeit für eine Niederlage oder einen Sieg. Besteht eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit, dann sind Sieg bzw. Niederlage bei beiden Mannschaften gleich wahrscheinlich. Bei einem Sieg würden uns im Nachhinein aber klare Gründe für diesen Sieg präsentiert, die sich völlig von denen unterscheiden, die im umgekehrten Fall als Gründe für die Niederlage vertreten würden.
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