„Das passt zu dem, was mein Mann gegen Ende seines Berufslebens äußerte“, fügt Lisa hinzu: ‚Am liebsten würde ich mit dem Arbeitsende sterben. Die Kinder sind erwachsen. Mein Leben hat sich erfüllt.‘“
Scheint mir doch ein sehr einseitiges Leben zu sein“, bemerkt Golo.
„Mit seiner neuen Lebenssituation kam wohl auch der ehemalige Leiter einer Touristikfiliale nicht klar“, sagt Max. „Ich stand bei Tchibo in einer Schlange, um Kaffee zu kaufen. Er kam auf mich zu, begrüßte mich freudig und legte gleich los: ‚Wie langweilig ist doch das Leben geworden. Ich habe noch Projekte, die ich umsetzen könnte. Doch man will nicht, dass ich weiterarbeite. Glücklich, wer nach dem Renteneintritt noch die Möglichkeit hat, beruflich tätig sein zu können.‘ Er wirkte sehr niedergeschlagen.“
„Umso scheinheiliger mag die Frage sein: ‚Wann willst du dich endlich zur Ruhe setzen?‘ Oft steckt Neid dahinter.“ Kiri betrachtet liebevoll ihr Ochsenauge.
„Trotzdem, die meisten atmen auf, wenn sie nicht mehr arbeiten müssen“, entgegnet Golo.
„Merkwürdig“, sinniert Lisa, „manche Männer empfinden ihren Eigenwert fast ausschließlich über ihren Beruf. Frau und Familie zählen da nicht wirklich – zumindest meinen sie das.“
„Beruflich weiterarbeiten wird eben als lebensverlängernde Maßnahme empfunden“, bekräftigt Alma. „So selten ist das nicht, dass sich jemand nach dem Ausscheiden aus dem Beruf umbringt. Die Psychologen sprechen vom Pensionstod – den übrigens nur Männer erleiden.“
„Man muss das Ganze aber nicht nur negativ sehen.“ Max trinkt einen Schluck Kaffee und erzählt dann: „Ich habe einen Bekannten, inzwischen Mitte 70, der schon seit Jahren schwer krank ist und im Rollstuhl sitzt. Dieser Mann ist ein überaus erfolgreicher Internist, der vielen Menschen in ihrem schweren Leiden helfen konnte. Er arbeitet wie besessen und praktiziert weiterhin.“
Als Rentner zähle ich nicht mehr so richtig
Golo sieht in die Runde, bevor er das Wort ergreift. „Mein Freund, ein erfolgreicher Manager meinte mit Bitterkeit: ‚Für die arbeitende Bevölkerung sinkst du als Rentner in die Bedeutungslosigkeit. Treffe ich mit anderen Leuten zusammen, ist es üblich, nach der beruflichen Tätigkeit zu fragen. Mich fragt jedoch niemand mehr. Ich bin einfach uninteressant geworden. Als Rentner zähle ich nicht mehr so richtig, das empfinde ich als das Schlimmste.‘“
„Ja, leider ist das so“, bestätigt Alma. „Im Ruhestand wechsle ich meine Stellung in der Gesellschaft. Selbst wenn die Zahl der Rentner hoch ist, man gehört nicht mehr dem Zentrum der Gesellschaft an, man driftet an den Rand. Und das ist hart!“
„Das bekam auch ein früher einmal renommierter und bedeutender Journalist zu spüren“, unterbricht Lisa sie. „Er ließ zu seinem 70. Geburtstag ein Buffet für 50 Personen herrichten. Es kamen jedoch gerade mal fünf. Ich war ebenfalls dabei. Er war völlig in sich zusammengesunken. Obwohl er früher ein Ekel war, tat er mir in diesem Moment leid.“
„Man wird links liegengelassen“, bestätigt Alma. „So erging es meiner Freundin Carola, eine anerkannte Professorin für Geschichte. Sie arbeitete nach ihrer offiziellen Verabschiedung wie bisher weiter, natürlich ohne Bezahlung. Zum Beispiel hält sie Vorlesungen und betreut Doktoranden.“
„Und sie bekommt überhaupt kein Geld dafür?“, fragt Kiri verwundert nach.
„So ist es. Neulich berichtete sie von einer Tagung: ‚Zwei Kollegen unterhalten sich über ein wissenschaftliches Problem. Weil es mein Forschungsgebiet betrifft, geselle ich mich zu ihnen. Was passiert? Ich werde von beiden herablassend wie ein Fossil angesehen und beide entfernen sich wortlos. Das wäre mir früher nie passiert.‘“
„Früher, da hätten viele ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken gesucht – kann ich mir gut vorstellen“, meint Kiri.
„Als Pensionärin ohne Lehrstuhl hat sie keinen Einfluss mehr. Das hat sie schon tief getroffen.“
Eine Pause tritt ein.
Schließlich bricht Max, dem man seine Verdrossenheit anmerkt, das Schweigen:
Als alter Mensch zählt man nicht mehr so ganz, auch wenn mir als Konsument große Aufmerksamkeit zuteil wird. Ich ärgere mich jedes Mal, wenn in der Zeitung betont wird, bei einem Autounfall sei ein Rentner beteiligt gewesen. Nun kenne ich mehrere Fälle, bei denen der Rentner aber nicht der Verursacher des Unfalls war. Immer wieder die Diskussion darüber, die Rentner einer Fahrtauglichkeitsprüfung zu unterziehen. Warum nicht junge Männer, die bedeutend mehr Unfälle verursachen?“
„Zum Glück sind wir Alten die besten Kunden der Autoindustrie, die gewiss dagegen Sturm laufen würde“, beruhigt ihn Golo.
Das Lebensgefühl ändert sich
„Im Ruhestand ändert sich nicht nur die Lebenssituation drastisch, sondern auch mein Lebensgefühl“, bemerkt Kiri. „Ich erlebe deutlich: hier die Berufstätigen, dort die Ruheständler. Bei einem Besuch in meiner alten Schule sind alle nett: ‚Komm doch mal wieder vorbei.‘ Doch eine leichte Traurigkeit bleibt bei mir zurück. Ich gehöre nicht mehr dazu. So richtig Lust, der Einladung zur Weihnachtsfeier zu folgen, habe ich eigentlich nicht. Lieber treffe ich mich mit den alten Kollegen, die auch aufgehört haben zu arbeiten. Hier fühle ich mich einfach besser.“
„Ähnlich erging es mir in einem Chor mit vielen jungen Leuten“, wirft Lisa ein. „Diese waren zwar freundlich, aber was für mich schlimm war, man ignorierte mich einfach. Jetzt habe ich mir einen Chor gesucht, in dem viele Ältere mitsingen. Hier fühle ich mich gut aufgehoben.“ Lisa macht dabei ein zufriedenes Gesicht.
„So empfinde ich das auch“, bestätigt Alma. „Wir Alten untereinander sind uns mit unserer Lebensweise gegenseitig vertraut. Man gehört mit zum ‚Bund der Alten‘ und fühlt sich einfach wohler als in einer Gruppe nur junger Leute.“
Mit dem Alter leben lernen
Nun meldet sich Golo zu Wort: „Neulich traf ich einen alten Kollegen, circa 75, und fragte ihn, wie es ihn gehe. Darauf antwortete er, diese Frage solle man einem alten Menschen nicht stellen. Er hat recht. Jeder hat mehr oder weniger körperliche Beschwerden, kann nicht mehr all die Dinge tun, die ihm früher wichtig waren. Wie geht’s? – Ich vermeide jetzt lieber diese Frage.“
„Eine dümmere Frage gibt es eigentlich nicht“, erwidert Kiri, „denn man möchte ja gar nicht die Kranken- und Leidensgeschichte des anderen hören. Jedenfalls nicht von jemandem, den man nur flüchtig kennt.“
„Ja, also sollte man anders fragen, sich auf das Jetzt beziehen, auf das gegenwärtige Tun. Zum Beispiel: ‚Was machen Sie gerade?‘ ‚Was führt Sie in die Stadt?‘ ‚Wollen Sie etwas Bestimmtes kaufen?‘ Darauf kann jeder unbefangen antworten und es kann sich ein interessantes Gespräch entwickeln.“
„Im Alter leben wohl die meisten Menschen so, wie sie leben möchten“, setzt Lisa das Gespräch fort. „Man geht seinen Interessen nach, ist zum Beispiel kreativ im Malzirkel, beim Töpfern, Handarbeiten, Knüpfen, Musizieren.“
„Viele haben auch den Wunsch, für andere da zu sein. Gleichzeitig suchen wir Unterhaltung und Zerstreuung“, ergänzt Max.
„Wie nicht mehr im Beruf stehende Menschen ihr Leben gestalten ist sehr vielfältig“, sagt Alma. „Eine Freundin sprach von ihrer Oma, die schon Jahre vor ihrem Rentnerdasein äußerte: ‚Für mich gibt es nichts Schöneres, als den ganzen Tag im Sessel zu sitzen und mich bedienen zu lassen.‘“
„Das wäre mir nun wirklich zu langweilig“, kommentiert Max.
„Gut, dass wir die Möglichkeit haben, ins Kino, ins Theater und in Sportgruppen zu gehen oder Ausstellungen zu besuchen und vieles mehr“, sagt Kiri und nippt an ihrer Tasse Tee.
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