Nach vier Tagen wurden sie in Kolonnen die zwei Kilometer zum Arbeitsamt in der Kawęczyńskastraße geführt. Tomasz verstand nicht, wie es möglich war, aber offenbar wussten einige Angehörige der Internierten schon vorher darüber Bescheid, hatten am Straßenrand auf sie gewartet und versuchten jetzt, ihren Lieben Lebensmittel oder warme Kleidung zuzuwerfen. Soweit Tomasz beurteilen konnte, gelang es nur in den seltensten Fällen; das meiste landete in den Taschen der Bewacher oder im Dreck. Fast war er froh, dass er nicht damit rechnen musste, irgendjemand würde versuchen, ihm etwas mitzugeben.
Im Arbeitsamt wurden sie in eine Halle mit verschiedenen Schaltern geführt, registriert und mit einem Transportschein ausgestattet. »Ludwigsburg (Württemberg)« stand auf Tomasz’ Schein. In einem Raum in der Skaryszewskastraße hing noch eine alte Karte, und nach einigem Suchen hatte er den Ort gefunden: Er war im Südwesten des Reichs, fast schon in der Schweiz, mehr als tausend Kilometer von Warschau entfernt.
Vereinzelt fiel Licht durch die Ritzen des Güterwaggons; hatten die Augen sich erst an das Halbdunkel gewöhnt, konnte man die Menschen unterscheiden, die sich auf den Boden kauerten, flüsterten, stöhnten, weinten. In der Ecke der Latrineneimer, jetzt schon nach nur wenigen Stunden Fahrt voll bis zum Rand. Tomasz hockte an einer Seitenwand, eingezwängt zwischen einer jungen Floristin aus einer Warschauer Vorstadt und einem älteren Mann, der seit Beginn der Reise kein Wort gesprochen hatte. Es war so eng, dass man seine Beine nicht ausstrecken konnte, und Tomasz fühlte sich bald schon benommen, als hätte er zu viel getrunken. Die Angst erfüllte den Raum wie ein schlechter Geruch, dem man nicht ausweichen konnte. Mit jedem Atemzug nahm man sie auf und spürte, wie sie den ganzen Brustkorb für sich einnahm und dann ins Blut überging, um sich mit jedem Schlag des Herzens weiter im Körper auszubreiten und sich untrennbar mit der eigenen Substanz zu vermischen. Tomasz presste die Handflächen gegen die Bretterwand in seinem Rücken. Ich habe nichts mehr zu verlieren, sagte er sich. Sie können mir nichts mehr tun, ich brauche mich nicht zu fürchten. Aber die Angst interessierte sich nicht dafür.
Das unregelmäßige Ruckeln und Rattern des Zuges nahm Tomasz jedes Gefühl für die vergehende Zeit; als der Zug irgendwann unvermittelt bremste und anhielt, hätte er nicht sagen können, ob sie zwei oder zehn Stunden unterwegs gewesen waren. Draußen näherten sich Schritte, und die Waggontür wurde aufgerissen. Grelles Licht flutete herein.
»Los, raus hier, aber dalli! Scheißpause, los, los!« Die ersten taumelten nach draußen; Tomasz ließ sich zur Waggonöffnung drängen und verfluchte seine verkrampften Muskeln, als er hinaussprang und ungeschickt auf Händen und Knien landete. Der Zug stand im Nirgendwo, keine Stadt, kein Dorf, nicht einmal ein Haus war in Sicht, nur flache Steppe und vertrocknete Felder unter einem leeren Sommerhimmel. Fünfundzwanzig, dreißig Waggons, aus denen viel zu viele Menschen quollen und sich dann entlang des Bahndamms verteilten. Ein paar Frauen versuchten, sich mit ihren weiten Röcken vor zudringlichen Blicken zu schützen, andere hatten sich schon einfach irgendwo hingehockt, um ihre Notdurft zu verrichten. Die kleine Floristin war dabei, sah Tomasz, bevor er sich schnell abwandte. Sie hatte die Augen geschlossen, als könnte niemand sie sehen, wenn sie selbst auch nichts sah. Die meisten Männer stellten sich mit dem Rücken zum Zug und taten so, als wären sie allein. Eine Truppe von Wachleuten mit Gewehren hatte einen weiten Halbkreis um sie gebildet und beobachtete sie abschätzig; einer warf seine Mütze in die Luft und schoss darauf, alle übrigen lachten.
Gleich neben Tomasz stand ein Bursche von fünfzehn, höchstens sechzehn Jahren, ein hübscher Junge mit einem noch bartlosen Kindergesicht und hellblonden Haaren, die so weich aussahen, dass sie an ein Baby erinnerten. Der Junge sah sich mehrmals verstohlen um; er schien auf etwas zu warten, presste die Kiefer fest aufeinander, und Tomasz meinte zu spüren, wie dessen Muskeln bis zum Zerreißen angespannt waren und bereit, auf einen winzigen Impuls hin loszuschnellen. Er legte dem Jungen die Hand auf die Schulter und hielt ihn fest.
»Mach das nicht, Junge«, sagte er leise. »Die knallen dich ab, ohne mit der Wimper zu zucken.« Der Junge drehte sich wild zu ihm um und sah ihm ins Gesicht.
»Lass mich los, ich muss nach Hause! Meine Eltern haben keine Ahnung, wo ich bin! Ich muss hier weg!« Riesengroße blassblaue Augen, die Pupillen groß wie Kirschkerne; ein weicher Mund mit zitternder Unterlippe.
»Sicher. Nach Hause wollen wir alle.« Tomasz verstärkte seinen Griff. »Aber wenn du jetzt losrennst, kommst du nie nach Hause. Du hast keine Chance, dich zu verstecken. Die erschießen dich, bevor du hundert Meter weit gekommen bist. Sei vernünftig.« Ein weiterer Schuss ließ sie zusammenzucken; der Junge, der gerade noch versucht hatte, sich von Tomasz loszureißen, fing an zu zittern.
»Ganz ruhig, Kleiner … Es wird alles gut, hörst du? Alles wird gut! Du darfst nur keine Dummheiten machen …« Was rede ich da für einen Unsinn?, dachte Tomasz, während er den Jungen mit sich zog zu der Stelle, wo jetzt schwarzes Brot verteilt wurde und man mit seinem Becher Wasser aus einem Eimer schöpfen konnte. »Wie heißt du eigentlich?«
»Jan«, flüsterte der Junge. »Jan Dobiezcewski. Aus Lemberg.«
Jan, von allen Namen. Von allen Namen ausgerechnet dieser. Tomasz zog scharf die Luft ein, schloss für ein paar Sekunden die Augen, bis der Pfiff einer Trillerpfeife das Kommando zum Einsteigen gab. »Komm, es geht weiter … Jan. Komm.«
Jemand hatte die Geistesgegenwärtigkeit besessen, den Latrineneimer mit nach draußen zu nehmen und zu leeren. Der Eimer wurde als Erstes wieder eingeladen, dann kletterten die Gefangenen zurück. Tomasz ließ den Arm des Jungen nicht los und sorgte dafür, dass sie einen Platz nebeneinander fanden, so nah an der Waggontür wie möglich, wo man noch einen kleinen Luftzug spürte.
Der kurze Aufenthalt hatte die Lebensgeister der Deportierten angefacht und ihre Hoffnungen. Wenn man ihnen zu essen gab, konnte es ja wohl so schlecht nicht um sie bestellt sein, oder? Wozu sollte man das tun, wenn man sie nur umbringen wollte? Gespräche flackerten auf, munterer als zuvor, hier und da war sogar leises Lachen zu hören. Der Junge zitterte wieder; Tomasz legte ihm den Arm um die Schultern.
»Alles in Ordnung bei dir?«
»Ich – ja. Alles in Ordnung.«
Er hörte ihn schluchzen; wahrscheinlich schämte der Junge sich dafür. Tomasz konnte sich noch dunkel daran erinnern, für wie viele Dinge er sich geschämt hatte, als er in dem Alter gewesen war – ein zu schwacher Bizeps, zu spärlicher Bartwuchs, zu dünn, zu weich, zu verträumt. Es schien hundert Jahre her zu sein. Er drückte den Jungen leicht an sich.
»Und du bist ganz allein hier? Oder ist deine Familie in einem anderen Waggon?«
»Nein, meine Familie ist in Lemberg. Ich bin allein.« Selbst im fahlen Zwielicht des Waggons glänzte das Gesicht des Jungen von Tränen. Er wischte sich mit dem Ärmel über die Augen.
»Ist ja gut, Janek«, sagte Thomas hilflos. »Ist ja schon alles gut. Sicher gibt es bald eine Gelegenheit, nach Hause zu schreiben und deinen Eltern Bescheid zu geben, wo du steckst. Vielleicht kannst du ihnen ja sogar ein bisschen Geld schicken. Ich habe gehört, dass man in Deutschland mehr verdient als hier.« Zumindest hatte das immer auf den Werbeplakaten gestanden, mit denen die Deutschen anfangs versucht hatten, polnische Arbeitskräfte ins Reich zu locken. Tomasz hatte nie daran geglaubt.
»Dann – dann denken Sie, man bringt uns zum Arbeiten nach Deutschland, Pan? Nicht ins Lager? Mein Onkel hat gesagt, in den Lagern …« Die Stimme brach ab.
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