Er war noch nicht ganz gelandet, da traf ihn schon der Schlag eines Gewehrkolbens in den Rücken, so dass er aufstöhnte vor Schmerz. Der nächste Schlag ließ ihn zusammensacken wie eine Stoffpuppe.
»Du Hurensohn, Scheißpolack, glaubst du, du kannst uns hier Ärger machen? Warte …« Er hob die Arme vors Gesicht, versuchte sich zu schützen. Dann eine andere Stimme.
»Papiere.« In seinem Kopf war ein Dröhnen; er schmeckte Blut und fuhr sich mit der Zunge über die geplatzte Lippe. Wie im Nebel nestelte er die Papiere heraus. Ein Polizist riss ihm die Arbeitsbestätigung aus der Hand.
»Nur das hier. Den Rest kannst du behalten.« Der Mann warf einen Blick auf die Bescheinigung, grinste und riss sie dann in Fetzen. »Wieder aufsteigen, los.«
Tomasz konnte sich nicht erinnern, wie er wieder auf den Wagen gekommen war, aber plötzlich schwebte Barteczkos Gesicht über ihm wie ein bleiches Gespenst. »Tomek, mein Junge, kannst du mich hören? Ich fürchte, das war eine Dummheit, ich glaube nicht, dass sie dich jetzt noch laufen lassen …« Tomasz nickte stöhnend. »Kannst du aufstehen? Komm schon, ich helfe dir. Wir sind gleich in der Skaryszewskastraße.«
Das Durchgangslager in der Skaryszewskastraße – es gab keinen Warschauer, der es nicht kannte. Es war ein klotziges, vierstöckiges Gebäude mit einer Mauer darum, in dem vor dem deutschen Einmarsch eine höhere Schule untergebracht gewesen war. Vor dem deutschen Einmarsch, bevor alle höheren Schulen und Universitäten von den Besatzern geschlossen worden waren. Wenigstens hatte Tomasz sagen hören, dass man von der Skaryszewskastraße nicht ins Konzentrationslager, sondern zur Zwangsarbeit geschickt würde. Er stolperte mit den anderen zusammen durch ein Spalier von Bewaffneten zum Tor.
Gleich am Eingang wurden die Papiere kontrolliert. Zusammen mit anderen, die ebenfalls keine Arbeitspapiere vorzeigen konnten, wurde Tomasz weiter in das Gebäude gedrängt; er hörte die Menschen um sich herum stöhnen und schreien und eine Frau, die man ebenso wie ihn der Gruppe der Festgehaltenen zugeteilt hatte, laut und energisch protestieren.
»… ich arbeite in einer Armeebäckerei, ich bin unabkömmlich! Ihr könnt mich hier nicht festhalten! Ich habe meine Arbeitskarte, ich kann mich ausweisen! Lasst mich gehen, ihr Schweine …« Ein dumpfer Schlag und ein Schrei beendeten die Tirade. Hatte sie wirklich ihr Schweine gesagt, fragte sich Tomasz, und wenn ja, war es dumm gewesen oder mutig? Oder beides?
»Frauen nach rechts, Männer nach links, macht schon!« Uniformierte trieben sie durch die Flure in einen großen Raum, der vielleicht einmal ein Zeichensaal gewesen war. »Ausziehen und die Kleider ordentlich um die Schuhe zusammenrollen! Alles dahinten an den Durchgang legen! Die Kleidung wird desinfiziert. Und dann rüber zum Duschen!« Was vor wenigen Minuten noch eine Gruppe unterschiedlicher Männer gewesen war mit unterschiedlicher Lebensgeschichte – Handwerker, Berufsschüler, Geistliche, Beamte, Schieber –, verwandelte sich in eine Masse nackter, zitternder Leiber. Tomasz steckte seinen Brustbeutel in die Jackentasche und hoffte, dass er ihn später wiederfinden würde. Der Beutel enthielt ein paar wenige Dinge, die ihn mit seiner Vergangenheit verbanden – ein Exemplar seines ersten veröffentlichten Artikels; ein kleines Stückchen Bernstein. Und natürlich das Foto von Agnieszka und Jan, als der Kleine gerade drei Monate alt gewesen war.
Die Wachen drängten ihre Gefangenen in Richtung einer großen Flügeltür; es war sinnlos, sich zu widersetzen. Die Berührung von fremder nackter Haut war unangenehm, und Tomasz bemerkte, wie ein Gefühl der Scham sich über sie alle legte und daran hinderte, sich in die Augen zu sehen, ja überhaupt ein Zeichen zu geben, dass sie sich gegenseitig wahrgenommen hatten. Als könne man so wenigstens eine Illusion von Würde bewahren.
Der Nebenraum war so groß wie der, in dem sie ihre Kleider ausgezogen hatten, kahl und fensterlos und mit einigen Dutzend Duschköpfen ausgestattet, die an Rohren unter der Decke montiert warten. Keiner unter ihnen, der nicht schon von den Duschen gehört hatte, keiner. Tomasz spürte, wie sein Herz sich weigerte weiterzuschlagen, wie es ihm den Atem nahm, jetzt schon den Atem nahm. So war es also, so würde es sein … Er stolperte barfuß über den kalten Betonestrich, suchte Halt an seinem Vordermann, an der gefliesten Wand. Plötzlich traf ihn ein Stück grauer Seife an der Schulter; die Wachen warfen sie wahllos zu ihren Gefangenen hinein, harte, graue, billige Seife, die doch nur bedeuten konnte, dass sie weiterleben durften, dass es eine Zukunft gab, dass das noch nicht das Ende war. Das kalte Wasser war wie eine Erlösung, die Taufe am Beginn eine neuen Lebens.
Handtücher gab es nicht. Obwohl es draußen ein milder Frühsommertag gewesen war, zitterte Tomasz am ganzen Körper, als sie noch nass aus einer anderen Tür wieder hinausgetrieben wurden und sich in einem Gang in einer Reihe aufstellen und die Hände über den Kopf heben mussten. Zwei junge Sicherheitspolizisten – fast Kinder noch, dachte Tomasz, so jung, so jung! – liefen mit einer Art Pumpe an ihnen vorbei und sprühten eine widerlich stinkende Flüssigkeit auf ihre Haare, auf den Kopf, unter die Achseln, auf die Genitalien. Tomasz schloss die Augen, nicht nur, um sie vor der aggressiven Chemikalie zu schützen. Er wusste, dass er niemals die Gesichter der Männer vergessen würde, die er in diesem Zustand gesehen hatte; die ihn in diesem Zustand gesehen hatten. Dass er in Zukunft in jedem fremden Gesicht danach suchen würde, ob es dabei gewesen war. Dass er in diesem Moment aufgehört hatte, der alte Tomasz zu sein, und von jetzt an darum kämpfen musste, wenigstens ein Mensch zu bleiben, mit Leidenschaften und Schwächen, mit Träumen, Plänen, Geheimnissen. Wenigstens hatte er den Professor gleich am Eingang schon aus den Augen verloren.
Nach Desinfektion und Entlausung wurden sie an einer Kommission vorbeigeführt, immer noch nackt, die Haare feucht vom Desinfektionsmittel. Es waren drei Leute hinter einem Behördenschreibtisch, eine Frau und zwei Männer, alle in Uniform, alle mit einem gelangweilten Ausdruck im Gesicht. Tomasz konzentrierte sich darauf, nur ihre Schuhe anzuschauen, die schwarzen Stiefel der Männer, die flachen Halbschuhe der Frau. Er hob die Arme, wie ihm befohlen wurde, drehte sich, öffnete den Mund, ließ sich in den Hals sehen, in die Ohren. Tief einatmen, Luft anhalten, tief ausatmen. Knie beugen. Kopf drehen. Vergiss, wer du warst. Vergiss deine Pläne.
Nach der Untersuchung durften sie sich ihre Kleider aus einem großen Haufen wieder heraussuchen; alles war noch feucht und stank. Tomasz war erleichtert, den Beutel mit seinen persönlichen Dingen wiederzufinden. Sowohl seine Hose als auch seine Jacke waren bei der Behandlung eingelaufen und jetzt zu kurz; die Schuhe hatten sich verfärbt, waren aber noch tragbar. Er empfand ein demütigendes Gefühl von Dankbarkeit deswegen.
Die nächsten Tage verbrachten sie in ehemaligen Klassenräumen, schliefen auf Pritschen aus Drahtgittern, fünfzig, sechzig Leute in einem Raum. Dreimal am Tag wurde Essen ausgegeben, wässriger Kaffee, wässrige Suppe, Brot, Marmelade. Familien kamen wieder zusammen, Freunde trafen aufeinander, bildeten kleine Grüppchen, diskutierten. Gerüchte entstanden und verbreiteten sich wie schlechte Luft: Man werde sie alle in die Steinbrüche des Lagers Rosen bringen, sie würden zu Schanzarbeiten nach Osten an die Front verschickt, die Deutschen suchten Freiwillige für medizinische Experimente – nichts schien unmöglich, nichts zu weit hergeholt. Nachdem er vergeblich versucht hatte, Barteczko zu finden, blieb Tomasz für sich. Vielleicht war der Professor wirklich zu alt und nach Hause geschickt worden, er hoffte es wenigstens. Vielleicht würde Bartek dann Tomasz’ Familie in Kraków darüber informieren, was aus ihm geworden war. Wobei der Alte vermutlich gar nicht wusste, dass Tomasz’ Familie in Kraków wohnte. Niemand wusste das, und auch er selbst hatte es ja schon halb vergessen.
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