O nein. Leonhard Glanz ist fest entschlossen, kein Schnorrer zu werden. Er nicht. Rasiert er sich nicht jeden Morgen und hat einen sauberen Kragen um, und eine Bügelfalte in der Hose – er legt sie jeden Abend zwischen Bettlaken und Matratze, das ist so gut wie bügeln – freilich, es kann einer glatt rasiert und alle Tage rasiert und doch ein Schnorrer sein, und es kann einer in ausgefranzten Hosen laufen und ohne Schlips und doch ein König sein. Einer, der Königreiche zu verschenken hat. Leonhard Glanz will kein Schnorrer sein. Ein König auch nicht. Dazu fehlt es ihm an Fantasie. Er will einfach arbeiten.
Ach so. Der Wunderrabbi von Munkacz oder so, der genau aus der Bibel nachweisen kann, warum ein Emigrant nach Gottes wohlweislichem und gerechtem Ratschluss nicht arbeiten darf. Sowas muss einem passieren.
Leonhard Glanz hat früher für die Leute die nicht arbeiten, nicht viel übrig gehabt. Was heißt keine Arbeit? Was heißt keine Stellung? Ein Mensch, der arbeiten will, findet immer etwas zu tun. Ein Mensch, der was kann, findet immer einen Posten. Sehen Sie mich an. In zehn Jahren habe ich noch keinen Tag gefaulenzt. Unberufen. Dreimal unter den Tisch geklopft. Aber Holz muss es sein. Dieses ist kein Holz. Dieses ist kein Schreibtisch im Kontor, mitten in der Kaufmanncity. Dieses ist ein etwas wackliger Marmortisch in einem Kaffeehaus. Immer wird man aus seinen Gedanken gerissen. In eine Wirklichkeit, die ja im Augenblick nicht gerade rauh ist, aber ein wenig dreckig, speckig und glänzend, wie eine abgetragene Hose.
Arbeiten verboten. Trotzdem. Die Rubrik der offenen Stellen kann man durchsehen. Das ist ja noch nicht verboten. Vielleicht findet sich die Möglichkeit irgendwo durch das Gitter des Gesetzes hindurchzuschlüpfen. Die einen, diesseits des Gitters, dürfen arbeiten, die anderen, jenseits des Gitters, dürfen nicht. Das ist wie im zoologischen Garten. Welches sind nun eigentlich die Bestien hinter dem Gitter und welches sind die Betrachter davor? Was denkt sich wohl so ein Löwe, wenn er die Menschen hinter dem Gitter sieht? Oder ein Elefant? Oder die Riesenschlange, die grässlich gebläht ein Kaninchen verdaut, wenn sie die an den dicken Glasscheiben zu weißlichen Flecken plattgedrückten Nasen sieht?
Wo ist diesseits und wo ist jenseits? Wer der Jäger ist und wer der Gejagte, das ist raus. Wer der Gefangene ist und wer der Gefangenenwärter, das ist auch heraus. Wer aber hat die Freiheit? Der da eingeschlossen ist, oder der da aufpassen muss, dass der Gefangene nicht ausbreche? Wer kommt nicht los von dem rasselnden Schlüsselbund? Affenkäfig am Sonntagnachmittag, mit tausend grinsenden Menschen davor. Worüber grinsen die eigentlich? Ist es das, was den Menschen menschlich macht, dass er lachen kann, dass er lächeln kann. Das kann kein Tier. Auch der menschenähnlichste Affe nicht mit dem Greisengesicht. Aber grinsen? Hamlet hat geirrt: »Dass einer lächeln kann und immer lächeln und doch ein Schurke sein.« Jener Claudius hat gegrinst. Lächeln tun die Beseligten.
Das Gitter. Das Gitter. Das Gitter. Wer ist davor und wer ist dahinter? Was hat der Wolf getan, dass man ihn fing? Mit Schlauheit, mit raffinierter Schlauheit, machten sie aus seiner Freiheit zu fressen nach seines Hungers Drang, eine heimtückische Falle. »Das ist der Wolf, der das Rotkäppchen gefressen hat und die Großmutter.« Immer hin und her. Hin und her. Am Gitter entlang. Hin und her. Und an der Wand, mit den Vorderpfoten ein karges Stück hinauf. Hin und her. Die Wand hüben, die Wand drüben sind abgewetzt, da, wo die Vorderpfoten über sie hinaus zu greifen so zwecklos bemüht sind. Hin und her. Und es ist garnicht wahr, dass er das Rotkäppchen gefressen hat und die Großmutter schon garnicht. Hin und her. Um Schauobjekt zu sein, zu einem bösen Märchen mit verlogener Moral, muss er hin und her. Manchmal bleibt ein Hund vor des Gitters anderer Seite mit stehen. Der gehört zu dem Menschen, der eben auch da steht. »Da ist der Wolf, der …« Der Hund aber kläfft. Kläfft sich heiser und geifert vor Wut. Er hasst den Wolf mit fantastischem Hass. Weil er selbst einmal ein Wolf gewesen. Wie lange ist das her? Hunderttausend Jahre oder so, als der Hund sich dem Menschen als Sklave ergab. Sich ihm verkaufte, für eine Handvoll abgenagter Knochen. Aber er weiß, dass er ein Sklavenvieh ist, ein Hund. Wie spricht der Hund? Wau, wau, für ein Stück Zucker. Gibt Pfötchen und macht hübsch, um einem Peitschenhieb. Du treue, poetische Hundeseele, um einen Teller Hundereis. Der da aber, hinter dem Gitter, der wilde Wolf, der kapituliert nicht. Wie weit, du poetische Hundeseele, reicht deine Welt? So weit, wie die Hundeleine oder der Pfiff des Herrn dich laufen lässt. Und keinen Schritt weiter. So wahr dein Herr die Macht hat, die Kraft und die Herrlichkeit, mit Zuckerbrot und Peitsche. Wau, wau und Heil. Der da aber, hinter dem Gitter, der da in seinem Kerker, der ist frei. Hin und her. Hin und her und träumt von der Steppe endloser Weite, von des Waldes dunkler Wärme, vom Strom, der aus Fernen kommt und in Fernen geht und der felsenhart ist, wenn der Frost klirrt und die Welt in ihrer Weiße noch weiter als sonst. Darum, weil er der Freie ist, muss der Sklave ihn hassen. Und muss ihn geifernd verbellen und verkläffen, dass die Steuermarke an seinem Halsband bebt. Du Hundeköter mit dem Maulkorb als deiner Zivilisation höchste Errungenschaft. Du Hund, du Hund, du Hund. Du und du und du. So ein Wolf im Käfig, der kann einmal ausbrechen. Und kann er es nicht, er bleibt, wer er ist. Aber ihr Hunde, ihr brecht nicht aus. Ihr kommt von der Leine nicht los, vom Maulkorb nicht und der Hundehütte. Und bewahrt dem Herrn das Haus und den Hof, mit Hab und Gut und Kisten und Kasten und das gekachelte Klosett. Für die Abfallknochen von seinem Tisch.
Leonhard Glanz. So wie du denkst, wirst du nicht durch das Gitter brechen. Mit einem Dreh nicht. Du wirst schon merken.
Ein Konzipient wird gesucht. Angebote mit Referenzen und Studiumerfolg sind da zu senden … Was ein Konzipient ist, weißt du nicht genau. Bei dir zu Hause nannte man das irgendwie anders. Studiumerfolg? Universitäten hast du nicht besucht. Aber die Hochschule des Lebens, meinst du. Erlebt hast du vielleicht so mancherlei. Aber ob du etwas gelernt hast? »Herr Ober«, diesmal in der Eigenschaft als Mensch, nicht als Kellner, »was ist hierzulande eigentlich ein Konzipient?« Ach so. Danke. – Kommt ja garnicht in Frage.
Junger Mann aus der Eisenbranche. Wie lange ist man heutzutage »Junger Mann«? Auf Grund der verbesserten sanitären Umstände bleiben die Menschen ja länger jung. Und dann der Sport. Leonhard Glanz hatte einmal ein Reitpferd für die Woche und eine Segelyacht für den Sonntag. Was hat er nun? Jedenfalls noch alle Haare auf dem Kopf. Und noch ein jugendliches Aussehen und Gehabe. Beinahe fünfzig? Wer sähe ihm das an? Junger Mann? Wenn weiter nichts ist. Freilich, er selbst hätte einen »jungen Mann« dieses Alters nicht mehr eingestellt. Schließlich hatte er ja ein Geschäft und keine Versorgungsanstalt. Aber Eisenbranche?
Exakter Rechner für Fakturierung wird gesucht. Ob er ein exakter Rechner ist? Das kann er wohl sagen. Hat er nicht immer sogar etwas mehr können, als exakt rechnen? Eine Ware kaufen mit 47 shilling und 6 pence und sie verkaufen mit 52 shilling und 3 pence, das wären genau zehn Prozent Nutzen. Aber die Börse muss man riechen können. Richtig einsteigen und richtig wieder aussteigen. Darauf kommt es an. Dafür hat Leonhard Glanz das Gefühl in den Fingerspitzen gehabt. Das ist mehr als exakt rechnen. Aber Fakturen ausschreiben? So viel brutto und so viel Tara, so viel Fracht und so viel Assekuranz, plus zwei Prozent Zinsen über Bankdiskont für das Dreimonatsaccept. Nein, das hat er nie gemacht. Dafür hat man doch seine Leute. Mit solchem Krimskrams hat er sich nie abgegeben. Exakter Rechner für Fakturierung? Ist ja Mumpitz.
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