Albrecht Krosick zeigte wortlos auf den Toten und ließ die Sache damit auf sich beruhen.
»Benachrichtigen Sie die Gendarmerie am Molkenmarkt und bitten Sie um Verstärkung«, trug Julius dem Hausdiener auf, während sich Albrecht über den Leichnam beugte und ihm den Schal vom Gesicht zog. Schockiert starrte der Bedienstete auf den leblosen Körper, während er ein devotes »Sofort, die Herren!« vor sich hin stammelte. Dann riss er sich von dem üblen Anblick los und eilte davon.
Julius wandte sich seinem Freund zu, der in der Zwischenzeit in die Hosen- und Hemdtaschen der Leiche gegriffen hatte.
»Nun, Albrecht, hast du etwas über die Beweggründe dieses Mannes herausgefunden?«
Krosick hielt ihm ein Blatt Papier entgegen.
»Das Einzige, was dieser Mann hier auf sich trug, ist dieses Schreiben. Und das werden wir heute noch gemeinsam entziffern müssen.«
Bentheim griff nach dem Papier, faltete es auseinander und las:
1216201817
201552054514 49514518
20185661621141120
23119 8120 19952514 81521205
21144 259191920 112125
135141938514?
Verärgert gab er den Zettel zurück. Wie sollte dieser Code – falls es überhaupt einer war – zu knacken sein? Wie viel Zeit blieb ihnen dafür? Und hatte er überhaupt etwas mit ihrem Fall zu tun? Der Tatortfotograf schaute seinen Freund mokant an, lächelte gelassen und meinte, als er Bentheims Unmut und seine Verzagtheit erfasst hatte: »Schneide nicht so ein griesgrämiges Gesicht, Julius. Der Code sollte leichter zu dechiffrieren sein, als du annimmst.«
»Wie kommst du darauf?«
»Deduktive Logik. Nehmen wir uns ein Vorbild an Gideon Horlitz und machen wir, was er getan hätte. Schau dir den Toten einmal genauer an, Julius. Seine Hände sind von Schwielen übersät, das Gesicht ist nachlässig rasiert, auch benutzt er kein Rasierwasser. Der Verblichene zählte also keineswegs zum erlauchten Kreis besser verdienender Leute. Nein, er gehörte vielmehr dem Menschenschlag an, der seine Kräfte und seine Muskeln gebraucht. Ich bezweifle stark, dass der Absender dieser Nachricht unserem Fremden hier eine intellektuelle Höchstleistung abverlangen konnte, nur um diesen Text zu entziffern. Was der Einbrecher vermochte, können wir beide schon lange, meinst du nicht auch, Julius?«
Zwei Stunden später saßen Bentheim und Krosick wieder im Büro ihres Vorgesetzten im ehemaligen Palais des Oberfeldmarschalls von Grumbkow. Gideon Horlitz ließ sich auf den aktuellen Stand der Dinge bringen. Dabei hockte er asketenhaft auf seinem Sessel, die Füße übereinandergekreuzt wie ein buddhistischer Mönch aus dem fernen, bunten Indien. Seine Rechte fuhr durch seinen Bart. Dann und wann vernahm Julius jene undefinierbaren Grunzlaute, die der Kommissar von sich zu geben pflegte, wenn er angestrengt nachdachte.
Die Minuten verstrichen, ohne dass sich Horlitz auch nur einmal zu Wort meldete. Julius beobachtete ihn insgeheim und fragte sich, was in seinem Hirn vorgehen mochte. Die Leichtigkeit, mit welcher der erfahrene Horlitz seine Schlussfolgerungen zog, überschritt den Horizont seines Denkprozesses. Bentheim blickte noch einige Zeit auf den Zettel mit den vielen Zahlen, den sie bei dem Toten gefunden hatten, bevor er entnervt den Kopf schüttelte und den Kommissar und Albrecht alleine zurückließ, um sich beim Gasthof ums Eck ein Bier und eine Brezel zu gönnen. Die beiden würden das Problem schon lösen.
30 Minuten später erwartete ihn ein ausgewechselt wirkender Kommissar. Er hatte sich eine Pfeife angezündet, deren beißenden Qualm er genussvoll inhalierte. Auch Krosick lächelte bis über beide Ohren.
»Sie haben doch nicht …?«
Gideon Horlitz nickte freudig. Fassungslos blickte Bentheim ihn an. Vollkommen ratlos, wie seine Freunde es geschafft hatten, den Code zu knacken, beugte er sich über das Papier. Noch bevor er etwas fragen konnte, hielt ihm der Kommissar ein weiteres Blatt entgegen, auf dem er in markanter Schrift seine Überlegungen notiert hatte.
»Sehen Sie, Julius, es ist doch ganz einfach. Sie müssen nur die richtigen Schlüsse aus den gegebenen Fakten ziehen, um ans Ziel zu gelangen. Cäsar, der allseits bekannte römische Feldherr, hatte zum Beispiel eine eigens für ihn entwickelte Geheimschrift, die ebenso einfach wie effektiv war: An die Stelle des A trat das D, an die Stelle des B das E und so weiter. Das nennt man gemeinhin monoalphabetische Verschlüsselung. Die alten Römer haben die Buchstaben ihres Klartextes einfach um drei Stellen verschoben. Der Name Cäsar wurde also, wenn ich mir das im Kopf so auf die Schnelle richtig zusammenreime, in seiner lateinischen Variante wie folgt geschrieben: Fdhvdu. Bei unserem Code verhält es sich ähnlich. Statt Buchstaben hat der Codierer einfach Zahlen verwendet. Eine 1 steht demnach für den ersten Buchstaben des Alphabets, das A. Die 2 steht für das B, die 3 für das C. So zieht es sich das ganze Alphabet hindurch fort. Bis hin zum Z, das der Zahl 26 entspricht.«
Bentheim wusste um die Komplexität zahlreicher mathematischer oder sprachlicher Codes. An der Friedrich-Wilhelms-Universität hatte er ein Seminar besucht, das sich mit den Kommunikationsmitteln des organisierten Verbrechens befasst hatte. Ausgefeilt und schwer zu knacken waren sie gewesen, jene Kassiber, Mordaufträge und Ganoven-Befehle, die meisten im Rotwelsch geschrieben, manche im Grypsera, einige wenige im Lotegorischen. Ihnen allen war jedoch gemein, dass man im Besitz des spezifischen Codes sein musste, um aus der Nachricht erst eine Information werden zu lassen. Dass Albrecht und Horlitz bloß ein paar Minuten für die Dechiffrierung gebraucht hatten, machte Julius sprachlos.
Der Kommissar seufzte lautstark.
»Kommen Sie, ich zeige es Ihnen, mein Freund«, sprach er und hielt Julius den Zettel mit dem codierten Text entgegen. »Schauen Sie doch nur einmal die Nummer 20185661621141120 an. Sehen Sie genau hin. Nach der Acht kommt eine Fünf, gefolgt von zwei Sechsen. Stellen Sie die Acht und die Fünf zusammen, so erhalten Sie die Zahl 85. Hierzu gibt es aber keinen entsprechenden Buchstaben. Auch für die folgenden Zahlen 56, 66 und 61 gibt es keine Buchstaben, die man ihnen zuordnen könnte. Die Fünf und die beiden Sechsen müssen einzelne Zahlen sein. Womit wir schon ein wenig auflösen können: 2018eff1621141120.
Machen wir nun weiter, Julius. Am Ende dieser Verschlüsselung stehen eine Zwei und eine Null. Die Null entspricht aber keiner Zahl, da das Alphabet mit A, also 1 beginnt. Wir haben also eine 20 am Ende, ebenso am Anfang. Also können wir auch schreiben: T18eff16211411t.
Setzen wir nun für die ersten beiden Zahlen, die Eins und die Acht, ihre entsprechenden Buchstaben ein, so erhalten wir den Wortteil Taheff-, was eindeutig ein Fehler ist. Ziehen wir aber die Eins und die Acht zu einer 18 zusammen, so verschmelzen die schon vorhandenen Buchstaben zum Wortteil Treff-, was die Sache ziemlich erleichtert. Lösen wir auch noch die restlichen Zahlen auf, so kommen wir von Treff16211411t zum leicht verständlicheren Wort Treffpunkt.«
Bentheim blieb beinah die Luft weg.
»Sie sind ein Genie«, stammelte er.
Horlitz aber winkte ab und meinte bescheiden: »Genug der schmeichelnden Worte, Julius. Lassen Sie uns jetzt darangehen, das Rätsel vollständig zu lösen.«
Und so geschah es denn auch.
Die drei Ermittler saßen über dem Kryptogramm, tüftelten Buchstaben- und Zahlenkombinationen aus, bis erneut ein Wort dechiffriert war. Sie überlegten angestrengt, konzentrierten sich auf die Chiffren, die vor ihnen lagen, doch kaum war der eine so weit, eine Lösung vorzuweisen, kam ihm der andere bereits zuvor. Krosick warf einen Vorschlag ins Feld, dann wiederum Bentheim, dann wieder der Kommissar, bis sie es schließlich geschafft hatten. Gideon Horlitz atmete erleichtert auf und zündete sich aus einem Gefühl des Triumphes heraus erneut seine bereits zum zweiten Mal gestopfte Pfeife an. Vor ihnen lag des Rätsels Lösung:
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