In einer katholischen Kirche hätte Bentheim pro forma einen Rosenkranz hervorgezogen und ihn mechanisch zwischen den Fingern hin und her wandern lassen. Hier jedoch fehlte dieses Utensil zur perfekten Scharade. Er faltete also lediglich die Hände, ließ den Kopf ein wenig sinken und beobachtete aus den Augenwinkeln heraus den Raum. Offensichtlich war die gesuchte Person noch nicht aufgetaucht.
Nach einiger Zeit erhob sich der beleibte Ordensbruder. Er ordnete den Faltenwurf seiner Kutte und wälzte sich schwer atmend durch den Kirchgang. An den Säulengängen, welche linker und rechter Hand die Emporen hielten, waren ein paar Leuchten angebracht, die alles in dunkles Rot tauchten – ein Teufelsrot, wie Julius meinte, das eine gespenstisch-dämonische Atmosphäre hervorrief.
Er spähte dem Dicken nach, während sich bei der offenen Kniebank auch Albrecht nach ihm umblickte. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Augen, und der Tatortfotograf zuckte fragend mit den Schultern.
Wo blieb der gesuchte Mittelsmann?
Bentheim sah noch einmal in die Richtung der eleganten Dame in Schwarz – offenbar eine Witwe – und ließ dann den Blick gemächlich durch die Kirche schweifen. Falls jemand eintreten sollte, so würde das laute Ächzen der Eingangstür sein Kommen schon ankünden.
Die St.-Peter-und-Paul-Kirche war ein Ort, den man gemeinüblich mit dem Attribut »seltsam« äußerst trefflich beschreiben konnte. Ziel und Nutzung der Kirche waren zwar dieselben wie bei allen anderen Kirchen auch, doch trat sie drastisch aus der Ansammlung von Gotteshäusern hervor. Man konnte sie gar als Panoptikum für einen Kunsthistoriker ansehen. Form und Ausstattung des Bauwerks waren nur schwer in die Kategorien und Epochen der Kirchenarchitektur einzuordnen. Hauptschiff und die beiden Seitenschiffe waren theoretisch gleich hoch. Doch die Emporen, die durch tiefer gelegene Bogen miteinander verbunden waren, ließen zumindest optisch eine Dreiteilung erahnen. Ein riesiges Gewölbe schmückte das Chorhaupt, vor dem links auf vier achtkantigen Pfeilern mit korinthischen Kapitellen eine hölzerne Kanzel stand. Die über dem Altar angebrachten Fensterrosen spendeten zu wenig Licht, als dass es die vorherrschende Dunkelheit durchbrochen hätte.
Julius fragte sich gerade, wie herrlich wohl die Orgel klingen musste, die mit zehn Registern und einem Manual der berühmten Firma Turley gebaut worden war, als sich einige Bänke vor ihm etwas bewegte.
Die Frau war aufgestanden und schritt nun Richtung Ausgang. Langsam kam sie an Bentheim vorbei, und er konnte in ihren Augen eine Träne erblicken, die sie verstohlen wegwischte. Mit zitternden Händen klammerte sie sich an einer beutelartigen Pompadour-Tasche fest. Ihre Brosche, ein in einer silbernen Fassung eingelegtes Obsidian-Herz, das sie über der linken Brust an ihr Kleid geheftet hatte, reflektierte den Kerzenschein.
Armes Geschöpf, dachte Bentheim, als sie so verloren an ihm vorbeiging, um die Kirche zu verlassen. Noch immer trauerte er Filine nach, Edwins Mutter und seine der Schwindsucht erlegene Gattin, und er fühlte mit der jungen Witwe.
Wiederum ein lautes Krachen, und die Tür fiel ins Schloss.
Da hörte Bentheim den Kommissar, wie er fluchend und blaffend auf Albrecht und ihn zugeschossen kam: »Himmel! Was haben wir falsch gemacht? Eine geschlagene Stunde sind wir schon hier und haben noch immer kein Zeichen von unserem Mittelsmann. Wo bleibt der Kerl bloß, zum Teufel noch mal!«
»Gideon!«, fuhr Julius seinen Freund und Vorgesetzten an. »Wir sind in einer Kirche.«
Nur schwerlich beruhigte sich Horlitz. Dann aber vergewisserte sich der Kommissar leicht beschämt, ob nicht doch noch jemand Zeuge seines Benehmens geworden war, und atmete erleichtert auf.
Enttäuscht verließen sie die Kirche. Versonnen ging Horlitz vor Krosick und Bentheim her. Sie gingen den Pfad zum Nikolskoer Weg hoch, dem sie eine Zeit lang in einvernehmlichem Schweigen folgten. Bald darauf konnten sie einen zufällig vorbeifahrenden Dogcart heranwinken. Sie bestiegen die Kutsche und ließen sich in die Stadt fahren. Das Gefährt holperte über den Weg, bog in rasantem Tempo nach rechts um die Kurve in die Königstraße ein, wo es über die Glienicker Brücke weiterging. Schließlich ließen sie vor den ersten Patrizierhäusern halten.
Bentheim verabschiedete sich von seinem Freund und ihrem älteren Kollegen, der seinen Gruß regungslos, fast schon apathisch quittierte. Gideons Gedanken mochten wohl um die seltsamen Umstände kreisen, die bisher zu zwei Todesfällen geführt hatten, und so war es für Julius nicht weiter verwunderlich, dass er von der Verabschiedung keine große Notiz mehr nahm.
Während Bentheim sich darauf freute, zu seinem Sohn zurückzukehren, um mit ihm, der jetzt schon schlafen mochte, die wenigen Stunden trauter Gemeinsamkeit zu genießen, ging sein Mentor gänzlich in seinem Beruf auf. Seit Claras Hinscheiden war die Arbeit seine Braut, und seine Besessenheit, was obskure, beinah schon ins Fantastische hinauslaufende Begebenheiten anging, ließ ihm gar keine Zeit übrig für solch »banale Dinge wie Balztanz und erneute Brautschau«. Zumindest waren dies seine Worte.
Wie gesagt, fand sich Bentheim bei seiner Vermieterin ein. Mit Frau Losch nahm er eine späte Abendmahlzeit zu sich und plauderte mit ihr über den neuesten Klatsch und Tratsch der Hauptstadt. Auch diskutierten sie angeregt die Entwicklung der preußischen Außenpolitik sowie den aktuellen Akzessionsvertrag, durch den der Kleinstaat Waldeck einen Teil seiner Hoheitsrechte an Preußen verloren hatte. Sie tranken Wein – die rüstige Offizierswitwe sogar drei ganze Gläser – und genossen den Abend, bis sie lachend und müde zu Bett gingen.
Am nächsten Vormittag begegnete Julius dem Kommissar auf dem Flur des Stadtpalais Grumbkow. Ein Lächeln zierte Gideons Gesicht, wie es stets der Fall war, wenn er ein Geheimnis aufgedeckt hatte, doch seine Augen waren diesmal voller Verdruss.
»Hoffe, Sie hatten eine erholsame Nacht«, grummelte er und hastete an seinem Angestellten vorbei in sein Büro, dessen Tür er schwungvoll schloss und Bentheim somit für dieses eine Mal den Zugang zu seinen geheiligten vier Wänden verwehrte. Der Tatortzeichner zog sich in einen anderen Arbeitsraum zurück, wo er ein paar Akten durchforschte, die seine Kollegen angelegt hatten. Albrecht war nirgends zu sehen. Von Theodor Görne, dem hageren Staatsanwalt, der zufällig auf Visite war und kurz ins Zimmer blickte, erfuhr Julius, dass sein Freund schon frühmorgens auf dem Kommissariat gewesen war, aber mit einem Spezialauftrag weggeschickt worden sei.
»Spezialauftrag?«
Görne nickte, wobei seine peinlich-langen Seitenhaare, die er von links über den Glatzkopf gekämmt hatte, gefährlich wippten und zu rutschen drohten. »Ja, so hat Horlitz es genannt: ein Spezialauftrag. Das waren seine Worte.«
»Worum ging es?«
»Irgendwas mit einem fetten Mönch. So genau habe ich nicht hingehört. Jedenfalls hat Ihr Freund den ganzen Tag dafür veranschlagt.«
Bentheim ahnte, worauf dieser Auftrag hinauslief. Sollte sich Horlitz doch in seinem Büro verbarrikadieren, um seine vielen Theorien zu wälzen und seine Vermutungen auf ihre Wahrscheinlichkeit hin zu überprüfen. In der Zwischenzeit sondierte Julius Fingerabdrücke, vertiefte sich in die von ihm selbst angefertigten Skizzen des Tatorts und legte sich seine eigenen Spekulationen über das Motiv des Täters oder der Täter zurecht, in denen einmal der Hausdiener, ein andermal der Einbrecher der Mörder war. Nach geraumer Zeit kreisten seine Gedanken gar um die absurde Idee, der alte Herzog von Gerolstein habe seinem Leben womöglich selbst ein vorzeitiges Ende gesetzt. An diesem Punkt angelangt, platzte ihm der Kragen. Wütend schob der Tatortzeichner den Sessel zurück, stand auf und eilte schnellen Schrittes in Richtung Horlitzens Büro.
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