Der Firth of Clyde ist den Gezeiten unterworfen. Wie alle Buchten und Mündungstrichter an Großbritanniens Westküste erlebt er in sechsundzwanzig Stunden zweimal Flut und zweimal Ebbe, und diese ständige Bewegung hat nicht aufgehört, seit das Meer zum ersten Mal in diesen Teil Europas vordrang. In der Eisenzeit stand eine erste Befestigung oben auf dem Felsen; über die Jahrtausende hinweg haben Wachposten die Prozessionen von ledernen und hölzernen Booten und Kriegsschiffen beobachtet, die mit steigender Flut hereinsegelten oder mit der Ebbe hinaus. In spätrömischer Zeit warnten sie vor dem Nahen hibernischer Piraten, die die Römer Scotti nannten. AIm 9. Jahrhundert blieb ihnen wahrscheinlich vor Schreck der Atem weg, als sie die Langbootflotten der Wikinger erblickten. In jüngerer Zeit beobachteten sie die Truppentransporter und Handelsschiffe, die das Empire zusammenhielten, und die stattlichen Passagierschiffe, die auf den Atlantik hinausdampften.
Kein Wunder, dass die Stadt im Schatten des Felsen die längste Zeit vom Schiffbau lebte. Die Werft von Dumbarton war zu klein, um die großen Ozeandampfer aufzunehmen, die im nahe gelegenen Clydebank gebaut wurden; stattdessen spezialisierte sie sich auf die kleineren Dampfboote und Raddampfer, die in den letzten 200 Jahren ihren Dienst auf dem Clyde verrichteten. Das Dampferfahren »doon the watter« von Glasgow aus war lange eine typische Freizeitaktivität in dieser Region.2 Europas allererster kommerzieller Dampfbootbetrieb begann hier im Jahr 1812, als die Comet von Glasgow nach Greenock fuhr. In den folgenden Jahrzehnten wurde der Dienst nicht nur auf alle Häfen am Firth ausgedehnt, sondern sogar auf so weit entfernt liegende Hafenstädte wie Oban und Stornoway. Die rot, weiß und schwarz gestrichenen Schornsteine der Dampfer, Postboote und Fähren von David MacBraynes Unternehmen waren später überall zu sehen und zogen Millionen von Ausflüglern und Reisenden an. Das Nachfolgeunternehmen Caledonian-MacBrayne oder »Cal-Mac« gehört auch heute noch zum Lokalkolorit.3 Und noch immer gilt das Sprichwort: »Die Erde ist des Herrn und alles, was auf ihr ist, doch die Highlands und die Inseln gehören MacBrayne«.
Die Industrie breitete sich mit der Zeit auch im Vale of Leven, dem Tal des gleichnamigen Flusses, am Ufer entlang bis nach Balloch am Loch Lomond aus. Färbereien, Druckereien und Gießereien konzentrierten sich in Alexandria, Jamestown und Bonhill. Arbeiter aus dem Vale of Leven wurden in Dumbarton »Jeelies« genannt, weil sie ihre Marmeladenbrote, die jeelies , im Fabrikhof aßen, während die Einheimischen zum Mittagessen nach Hause gingen.
Es gibt keinen besseren Weg, die eigene Position historisch und geografisch einzuordnen, als eine Fahrt auf dem Dampfschiff über den Firth. Selbst eine kurze Überfahrt von Wemyss Bay nach Rothesay auf der Insel Bute oder von Ardrossan nach Brodick auf Arran ist überaus reizvoll, denn in nur etwas mehr als einer halben Stunde überbrücken die Passagiere Schottlands wichtigste Grenzlinie zwischen den Lowlands und den Highlands. Wemyss Bay in Ayrshire, 30 Meilen westlich von Glasgow, gehört zur Lallans B– Heimat des Dichters Robert Burns. Rothesay und Bute gehören zur Gaeltacht – dem Land der Clans, der Tartans und der gälischen Sprache. Man sollte die Reise an einem jener »frischen« Tage machen, für die der Firth berühmt ist. Eine steife Brise bricht schon die Dünung und bläst Gischt von den Wellenkämmen. Die starke Fähre bäumt sich auf und rollt selbstbewusst unter den heiseren Rufen der Möwen und dem beißenden Geruch des Seetangs. Aschgraue Wolken jagen über den Köpfen dahin, sie ziehen zu schnell, um ihre Regenlast abzuladen; Flecken von blauem Himmel geben schmale Sturzbäche aus Sonnenlicht frei, das hier und da auf dem Wasser und auf dem leuchtenden Grün der gegenüberliegenden Küste spielt. Die weißen Bugwellen tanzen mit den weißen Segeln der Yachten, die vorübereilen. Mit festem Griff an der Reling, roten Wangen und zum Bersten gefüllten Lungen beobachtet man gebannt das Schauspiel aus Farbe und Bewegung. Ein Regenbogen glänzt über dem Wasser vor Bute. Dann legt sich eine gewisse Ruhe über die Fähre, wenn sie in den Windschatten des Hafens kommt, und man tritt, gebührend erfrischt, ans Ufer – in einem anderen Land.
Dies ist die Landschaft, die auf ewig mit dem Namen Harry Lauder (1870–1950) verbunden bleiben wird. Er war einer der berühmtesten Entertainer des frühen 20. Jahrhunderts und vermutlich der erste Sänger, der über eine Million Platten verkaufte. Lauder sang beliebte sentimentale Lieder in einem breiten schottischen Akzent und sprengte alle Klassengrenzen mit seiner einzigartigen Mischung aus Gleichmut und Zartheit.
Songs wie »I love a lassie, a bonnie Hielan’ lassie« oder »Keep right on to the end of the road« brachten ihm ein Vermögen ein, mit dem er sein Herrenhaus in Laudervale nahe Dunoon baute. Seine vielen Tourneen in die Vereinigten Staaten begannen stets mit einer Dampferfahrt den Firth hinauf von Dunoon zum Princes Pier in Greenock.
Roamin’ in the gloamin’ on the bonnie banks of Clyde,
Roamin’ in the gloamin’ wi’ ma lassie by ma side.
When the sun has gone to rest, that’s the time that I like best.
O it’s lovely to be roamin’ in the gloamin’.4 C
Fin Besuch in Dumbarton Castle erzählt ein paar ältere Geschichten, wie sie auch in allen Führern und Websites zu finden sind:
Dumbarton Rock steht über dem Leven am Zusammenfluss mit dem Clyde und ist das bekannteste historische Gebäude der Stadt. Die Burg, die in siebzig Meter Höhe auf dem gleichnamigen Felsen steht… ist eine auffällige Landmarke am Clyde. Der Felsen war … seit prähistorischen Zeiten befestigt. Die Burg war eine königliche Festung, lange bevor die Stadt königliche Privilegien erhielt; ihr Besitz [wechselte] von den Schotten zu den Engländern und wieder zurück. Sie spielte eine wichtige Rolle in den Unabhängigkeitskriegen und wurde kurzzeitig genutzt, um Wallace nach seiner Gefangennahme unterzubringen. Von hier aus wurde auch Maria Stuart nach Frankreich in Sicherheit gebracht. Und sie war auf dem Weg nach Dumbarton Castle, als sie bei Langside vernichtend geschlagen wurde.5
William Wallace »Braveheart« und Maria Stuart sind die beiden Namen aus der schottischen Geschichte, die fast jeder kennt.
Bei näherem Hinsehen ist der Doppelgipfel des Felsens von einer tiefen Schlucht durchzogen: mit seinen etwas mehr als siebzig Metern ist der »White Tower Crag« etwas höher als der »Beak«. Das älteste erhaltene Bauwerk ist ein Steinbogen aus dem 14. Jahrhundert, von dem aus eine Treppe mit 308 Stufen nach oben führt. Am Fuß des Felsens beherbergt das Governor’s House aus dem 18. Jahrhundert ein kleines Museum. Hier erfährt man von der netten jungen Führerin, dass der frühe englische Historiker Beda eine befestigte Stadt namens »Alcluith«, »Felsen des Clyde«, erwähnte und dass Dumbarton einst zusammen mit Castle Dundonald in Ayrshire die wichtigste königliche Festung des Königreichs Strathclyde war. »Wir wurden im Jahr 870 von den Wikingern überfallen«, erzählt uns die Führerin. Als sie gefragt wird, wer »wir« denn seien, antwortet sie mit einem Lächeln: »Ich bin von hier, ich bin eine Piktin.«
Der Ausblick vom White Tower Crag belohnt alle, die hinaufsteigen, für ihre Mühe. Die moderne Stadt liegt ihm direkt zu Füßen, sie wimmelt von Menschen, die von hier oben aus wie Ameisen aussehen. Das Stadtzentrum von Glasgow, zehn Kilometer entfernt, hüllt sich in Dunst, doch in Richtung Westen verbessert die feuchte Luft die Sicht wie ein Vergrößerungsglas. Der Firth präsentiert sich als riesige ausgestreckte Hand, deren Finger rechts nach Gareloch und Loch Long, in der Mitte nach Holy Loch und am Horizont auf die Hügel von Arran und Argyll weisen. Weit im Norden erheben sich die blaugrauen Spitzen des Ben Lomond und des Ben Oss. Jenseits des Flusses liegen die mit Kiefern überzogenen Hänge der Glennifer Braes in Renfrewshire und der Hill of Stake; und links im Vordergrund sieht man die Landebahnen des Flughafens.
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