Dieser Begriff – die Waliser sprechen von Yr Hen Ogledd – erfordert eine Erklärung. Die alten Briten, Dutzende regionaler Stämme, die ganz Großbritannien vor der römischen Eroberung beherrschten und der Insel ihren Namen gaben, wurden allmählich vertrieben oder in nachrömischer Zeit integriert, und ihre frühere Vorherrschaft in allen Teilen der Insel ist weitgehend vergessen. Ihre offensichtlichsten Nachkommen, auf Englisch als die »Welsh«, die »Fremden« bekannt, bewohnen heute nur eine Ecke ihres früheren Heimatlandes, ein Überbleibsel, das die herandrängenden Engländer »Wales«, das »Fremde Land«, nannten. EDas war einmal anders. Nach dem Ende des römischen Britannien und dem Zustrom von »Angelsachsen« hielten sich die Briten in drei Hauptregionen besonders lange. In einer davon, dem heutigen Wales, haben sie überlebt. In den anderen beiden, dem heutigen Cornwall und dem »Alten Norden«, haben sie es nicht geschafft. Und doch war ihre Präsenz dort sehr real und hatte über Jahrhunderte Bestand. Alt Clud war der langlebigste Rest der Vormacht der alten Briten im nördlichen Britannien, der Region, die schließlich zu Schottland werden sollte.
Man sollte deshalb vielleicht mit einer unbestrittenen Tatsache beginnen: Dieses Reich gab es wirklich. Seine Geschichte spiegelt sich in archäologischen und linguistischen Belegen, in den Chroniken seiner Nachbarn, in Königslisten und in Anspielungen aus Dichtung und Sagen; es existierte sechs- oder siebenhundert Jahre lang. Sein ursprünglicher Name und seine genauen Grenzen sind unbekannt. Aber wir wissen mit absoluter Sicherheit, dass es da war. Zwischen der Abenddämmerung des römischen Britannien und dem Morgengrauen Englands und Schottlands gab es verschiedene keltische Reiche im nördlichen Britannien. Alt Clud ging als Letztes unter.
Die Kelten der Britischen Inseln teilten sich in römischer Zeit – wie auch heute noch – in zwei unterschiedliche Sprachgruppen. Auf der Grünen Insel, Éire , sprachen die gälischen oder goidelischen Kelten eine Sprache, die Linguisten als »Q-Keltisch« bezeichnen. Ihr Wort für »Sohn« war mac. Auf der größeren Insel Prydain (Britannien) sprachen die britischen Kelten Brythonisch oder »P-Keltisch«. Ihr Wort für »Sohn« war map. Für den Uneingeweihten klingen der goidelische und der brythonische Zweig des Keltischen unterschiedlich und sehen auch so aus, aber ein guter Lehrer kann die Lautverschiebungen von den gemeinsamen Wurzeln her schnell erklären. Die charakteristische Satzstellung mit Prädikat–Subjekt–Objekt blieb unverändert, und morphologische Verschiebungen folgten oft parallelen Mustern. Goidelische wie brythonische Kelten nahmen zum Beispiel neue Systeme der Silbenbetonung an, doch während die goidelischen sich für den Akzent auf der ersten Silbe des Wortes entschieden, ging man im Brythonischen dazu über, die vorletzte Silbe zu betonen. Beide Sprachgruppen schwächten die Konsonanten zwischen Vokalen ab. Im Goidelischen verwandelte sich t zu th , im Brythonischen zu d , sodass ciatus (Schlacht) zu cath (Irisch) und cad (Walisisch) wurde. Der w-Anlaut wurde im Goidelischen durch f und im Brythonischen durch gw ersetzt , sodass »wahr« im Irischen fir und im Walisischen gwir heißt. Englische Ohren sind an diese Laute nicht gewöhnt. Da aber das Goidelische/Gälische wie auch das brythonische »Altwalisisch« auf Dumbarton Rock zu hören waren, klingt ihr Nachhall, allerdings nicht immer richtig und vollständig verstanden, noch deutlich in der Hintergrundmusik mit.10
In den vier Jahrhunderten unter römischer Herrschaft waren die Romano-Briten in der Provinz Britannia deutlich weniger latinisiert als ihre keltischen Verwandten in Gallien oder Iberien. Manche waren sicher zweisprachig und griffen bei Kontakten mit Römern auf das Lateinische zurück, während sie untereinander Brythonisch sprachen; andere konnten womöglich gar kein Latein. Als das Westreich zusammenbrach, gingen sie nicht wie die Franzosen oder Spanier zu einer neulateinischen Mundart über, sondern kehrten zum Brythonischen zurück, bis sie neue linguistische Herausforderungen in Gestalt der fremden Sprachen germanischer Invasoren, gälischer »Skoten« aus Irland und später Nordisch sprechender Wikinger meistern mussten.
In der Moderne haben sich alle daran gewöhnt, Britannien in England, Schottland und Wales zu unterteilen. Aber diese moderne Landkarte muss man aus seinem Denken verbannen, wenn man den früheren Aufbau der Insel wirklich verstehen will. Damals, als die Provinz Britannia zusammenbrach, gab es kein England, da die angelsächsischen Vorfahren der Engländer gerade erst ankamen. Es gab kein Schottland, weil die Schotten noch gar nicht da waren, und es gab kein klar umrissenes Wales. Die früheren Romano-Briten und ihre P-keltische Sprache verbreiteten sich über den größten Teil, wenn über ganz Prydain , und während sich das ethno-linguistische Puzzle verschob, konnte man »Wales« in jedem Winkel finden, in dem sich Briten halten konnten.
Man kann mehrere Stufen der Romanisierung im nachrömischen Britannien ausmachen. Die Städte und das sie umgebende Hinterland in der früheren Provinz Britannia blieben stark romanisiert. Die Stämme weiter im Norden, vor allem jene auf der anderen Seite des Hadrianswalls, waren bestenfalls teilweise romanisiert worden, und die noch weiter nördlich lebenden »Pikten« blieben praktisch unberührt von römischer Kultur und Lebensart.
Im 5. und 6. Jahrhundert fielen die »Angelsachsen« in Britannien ein. Bei ihrem Vordringen nach Westen trieben sie in den Midlands einen Keil zwischen die Briten auf beiden Seiten. Nach der Schlacht von Chester im Jahr 616 sicherten sich die Angeln im mächtigen Staat Mercia ein Territorium, das vom Humber zum Mersey und damit von Küste zu Küste reichte. Seit damals waren die Briten im Norden von den größeren Ballungen ihrer Landsleute in anderen Gebieten abgeschnitten (obwohl es weiterhin Kontakte entlang der westlichen Seestraßen gab). Auch die Unterschiede zwischen den Walisern in »Wales« und den Nordwalisern, deren bedrängte britische Gemeinschaft langwierige Rückzugsgefechte führen musste, wuchsen.
Trotz seiner verschwommenen Umrisse kann der »Alte Norden« allerdings nicht nur als Fußnote des großartigen Spektakels der britischen Geschichte abgetan werden. Er umfasste wenigstens sieben bekannte Reiche, deren Taten nicht weniger heldenhaft waren als jene ihrer angelsächsischen Pendants. Er hinterließ sehr viele Ortsnamen und ein Literaturkorpus – im Walisischen als Yr Hengerdd oder die »alte Dichtung« bekannt –, neben dem der Beowulf wie ein schnöseliger Nachzügler wirkt.11
Die Sprache des Alten Nordens wird gewöhnlich in die Kategorie des Cumbrischen eingeordnet. Das ist eine Unterguppe des P-keltischen Brythonisch und daher mit dem Walisischen, Kornischen und Bretonischen verwandt. Natürlich liegt für Historiker ein großes Problem darin, dass Kumbrisch selten niedergeschrieben wurde und von Linguisten nur aus ziemlich mageren Informationsschnipseln erschlossen werden kann. Ein solcher Schnipsel ist der Name Cumbria (»Land der Waliser«) selbst, der einst ein weit größeres Territorium umfasste als heute. Einen weiteren Schnipsel liefern die Zählsysteme cumbrischer Hirten. Es ist gut belegt, dass Menschen, deren Muttersprache verloren geht, vor allem an zwei Dingen festhalten: den Zahlen, mit denen sie zählen gelernt haben, und den Gebeten, in denen sie zu ihrem Gott sprechen. Einen verblüffenden Beleg für dieses Phänomen findet man in einigen Hochlandgemeinden der Borders im heutigen Nordengland und Südschottland. Die Anglisierung setzte sich in jenen Gebieten vor Jahrhunderten in Gestalt der Nordengländer oder der Lowland-Schotten durch, doch die Hirten dort zählen ihre Schafe noch immer mit den Zahlwörtern ihrer brythonischen Vorfahren. Die Ähnlichkeiten sind unübersehbar, und sie spiegelten sich noch in einigen Inschriften wider, die bis vor nicht allzu langer Zeit am alten Schafmarkt in Cockermouth zu sehen waren.12 Hier finden wir die allerletzten Echos des Alten Nordens.
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