1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 »Und das Labyrinth? Theseus und der Faden der Ariadne? Der Minotaurus? Hat es den auch gegeben?«
Nikomedes lächelte. »Ob es ein Wesen halb Mensch, halb Stier tatsächlich gegeben hat, wage ich zu bezweifeln, aber das Labyrinth ist Realität. Es liegt rund 30 Kilometer südwestlich des Palastes in den Bergen, nahe der Stadt Gortyn. Ein Höhlensystem, dessen zweieinhalb Kilometer lange, geschwungene Gänge in unregelmäßigen Winkeln aufeinanderstoßen und vielerorts in Sackgassen enden. Es ist stockdunkel darin und so unübersichtlich, dass man sich sehr leicht verirren kann.«
Oskar ließ sich zurücksinken. Er hatte das alles immer als Märchen abgetan.
»Woher weißt du denn von König Minos?« Humboldt warf ihm einen skeptischen Seitenblick zu.
»Die Sagen des klassischen Altertums von Gustav Schwab«, murmelte Oskar. »Ich habe es in Ihrer Bibliothek gefunden. Das einzige Buch, in dem auch mal gekämpft wird. Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, dass ich es mir ausgeliehen habe.«
Humboldt klopfte dem Jungen auf die Schulter. »Wenn das der Weg ist, dir ein wenig klassische Bildung angedeihen zu lassen, soll es mir recht sein. Lies es ruhig weiter. Aber bitte geh sorgsam damit um, es ist eine Erstausgabe.«
»Versprochen.« Oskar senkte schuldbewusst den Kopf.
In diesem Augenblick kam Charlotte zurück. In ihren Händen hielt sie einen kleinen mechanischen Kasten, an dessen Vorderseite ein Sprachrohr und eine Vielzahl leuchtender Knöpfe angebracht war. Das Linguaphon.
Humboldt nahm ihr den Kasten ab und forderte den Kapitän auf, die Lederschlaufe um seinen Hals zu hängen. Er steckte zwei Knöpfe in die Ohren des Mannes und brachte seinen Mund an das Sprachrohr. Vogiatzis hob besorgt die Augenbrauen, doch nachdem Nikomedes ein paar Worte mit ihm gewechselt hatte, beruhigte er sich. Humboldt prüfte den Sitz des Gerätes, dann schaltete er es ein. Ein leises Pfeifen erklang. Der Kapitän zuckte zusammen. »Nur keine Sorge«, sagte Humboldt. »Ich muss den Apparat nur schnell kalibrieren. Wären Sie so freundlich, kurz von eins bis zehn zu zählen?«
»Èna, dhio, tria …«
Humboldt blickte auf die schmale Leuchtanzeige, dann nickte er. »Perfekt«, sagte er. »Jetzt müssten Sie mich eigentlich verstehen.«
Die Augenbrauen des Kapitäns schnellten in die Höhe.
»Das ist … unglaublich«, kam die Stimme des Seemanns aus dem Lautsprecher. »Ich verstehe Sie. Es ist, als wären Sie direkt in meinem Kopf. Stavros, das musst du dir anhören!« Er zog die Ohrhörer heraus und reichte sie dem jüngeren Mann.
Oskar musste lächeln. Er konnte sich noch gut erinnern, als er das Gerät zum ersten Mal im Einsatz gesehen hatte. Damals war es ihm wie Zauberei vorgekommen.
»Unglaublich«, sagte Nikomedes, nachdem er den Worten seines Kapitäns gelauscht hatte. »Dieses Gerät schlägt Edisons Phonographen um Längen. Warum haben Sie es nicht auf der Weltausstellung in Chicago vorgestellt? Sie hätten sicher die höchste Auszeichnung erhalten.«
Humboldt winkte ab. »Aus Auszeichnungen mache ich mir nichts. Wenn das Gerät seinen Dienst verrichtet, bin ich schon zufrieden. Aber jetzt zurück zu Ihrer Geschichte. Berichten Sie mir in allen Einzelheiten von der Nacht des Unglücks.«
5
Zur selben Zeit in Athen …
Das Haus lag auf einem Hügel, hoch über den Dächern der antiken Stadt. Wie ein Palast thronte es inmitten eines prächtigen Gartens aus blühenden Orangenbäumen und duftenden Zypressen. Gegenüber, nur etwa zwei Kilometer entfernt, erhoben sich die weißen Säulen der Akropolis in den makellos blauen Himmel. Schwalben und Mauersegler umschwirrten den Parthenon und erfüllten die Luft mit schrillem Geschrei. Der Wind trug den Geruch von duftenden Rosen durch das geöffnete Fenster. Irgendwo in der Ferne war das Läuten von Kirchenglocken zu hören.
Der alte Mann zog die Vorhänge zu und humpelte langsam an seinen Schreibtisch zurück. Sein Kopf, der auf einem viel zu dünnen Schildkrötenhals saß, fühlte sich an, als würde er mehrere Zentner wiegen. Die spärlichen Haare umrahmten seine Glatze wie ein Lorbeerkranz. Mit einem Ächzen ließ er sich auf seinen Stuhl sinken. Dann holte er einen Schlüssel hervor und schloss die oberste Schublade auf. Ein einzelner schmutziger alter Brief lag darin. Ein von Seewasser beflecktes Papier, auf dem mit zittriger Handschrift etwas geschrieben stand. Der alte Mann überflog die Zeilen, dann schloss er die Augen.
Nach einer Weile öffnete er sie wieder und schob die Schublade zu. »Bringen Sie ihn herein!«, krächzte er.
Der Diener verbeugte sich, dann öffnete er die Tür und sagte zu der Person, die draußen wartete: »Seine Exzellenz erwartet Sie jetzt.«
Ein seltsamer Mann betrat das verdunkelte Zimmer. Er trug einen breitkrempigen Hut, der tief in die Stirn gezogen war. Sein schmales Gesicht wurde von einer hakenförmigen Nase beherrscht, die an den Schnabel eines Falken erinnerte. Er war hochgewachsen, schlank und von einer animalischen Geschmeidigkeit.
Er ging ein paar Schritte, dann blieb er stehen. Der alte Mann musterte ihn gewissenhaft. Die Temperatur schien schlagartig um einige Grad gesunken zu sein. Niemand wusste, woher der Fremde kam oder welcher Nationalität er angehörte. Man nannte ihn nur den Norweger, doch ob das seine wirkliche Herkunft war, blieb ungewiss. Mit einer Handbewegung gab der Alte seinem Diener zu verstehen, er solle sich entfernen. Der Neuankömmling wartete, bis die Tür ins Schloss fiel, dann fragte er: »Sie haben mich rufen lassen?«
Seine Stimme klang wie das Rascheln von Herbstlaub.
Der alte Mann hob sein Kinn. »Sie sind mir als einer der zuverlässigsten Ihres Standes beschrieben worden. Ein Mann, der seine Aufträge mit größtmöglicher Präzision ausführt.«
»So ist es.«
»Das ist gut. Sehr gut. Was ich von Ihnen erbitte, verlangt größtmögliche Diskretion.«
»Was kann ich für Sie tun?«
»Sie sollen jemanden für mich aus dem Weg räumen.«
»Um wen handelt es sich?«
Der Alte schob einen Zeitungsausschnitt über den Tisch und tippte auf das Foto. »Sehen Sie den Mann hier? Ich habe Grund zu der Annahme, dass er uns Schwierigkeiten machen könnte.«
Der Fremde kam näher und warf einen Blick auf das Foto. »Ein Forscher?«
Der Alte trank einen Schluck Wasser und wischte über seinen Mund. »Er ist weit mehr als das. Er ist Wissenschaftler, Erfinder und Weltenreisender. Seit kurzer Zeit bietet er seine Dienste Privatfirmen an, die – sagen wir mal – ungewöhnliche Probleme haben. Probleme, die kein anderer Spezialist lösen kann. Er ist beauftragt worden, in einer Sache zu ermitteln, die mich und meine Kompagnons in größte Verlegenheit bringen könnte. Er muss verschwinden, und zwar so schnell wie möglich.«
Der Fremde beugte sich tief über das Foto. Er zog eine Lupe heraus und betrachtete das Bild genauer. »Carl Friedrich von Humboldt«, sagte er. »Der Mann sieht nicht aus wie jemand, der leicht zu töten ist.«
»Deswegen habe ich mich an Sie gewandt«, fuhr der Alte fort. »Ich habe Erkundigungen über ihn eingezogen. Man erzählt wahre Wunderdinge über diesen Humboldt. Er sei ein ausgebildeter Kämpfer und Abenteurer, er verfüge über eine Vielzahl von Waffen und Tötungsmechanismen. Angeblich besitzt er sogar eine Flugmaschine.«
»Interessant«, sagte der Fremde. »Möchten Sie, dass ich nach Deutschland reise?«
»Nein.« Wieder hustete der Alte, diesmal stärker. »Wir gehen davon aus, dass er nach Athen kommen wird. Vermutlich im Laufe der nächsten Tage. Alles, was Sie zu tun haben, ist, die Augen offen zu halten und ihn auszuschalten. Wichtig ist nur, dass es unauffällig geschieht. Die Spur darf unter keinen Umständen zu mir zurückführen. Lassen Sie es wie einen Unfall aussehen.«
»Das versteht sich von selbst. Unfälle sind unsere Spezialität.« Der Norweger richtete sich auf. »Es gibt da allerdings eine Sache, die Sie wissen sollten.«
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