Die Staaten der jungen NATO folgten strategisch der US-amerikanischen Vorgabe, die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten in einem Ring von Norwegen über Italien und Griechenland bis hin zur Türkei einzudämmen. Eine durchgängige Frontlinie ließ sich wegen der Neutralität Österreichs und der Schweiz sowie wegen der Blockfreiheit Jugoslawiens dabei nicht realisieren. Das Bedrohungsszenario der westlichen Militärallianz ging deshalb davon aus, dass die Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in der ČSSR, verstärkt durch tschechische Divisionen, unter Missachtung der österreichischen, schweizerischen und jugoslawischen Neutralität im Kriegsfall nach Norditalien einfallen könnte, um einen tiefen Keil zwischen die CENTAG (Central Army Group) und die SOUTHAG (Southern Army Group) in Italien zu treiben. Das ist der militärpolitische Hintergrund für die Militärspionage des StB: die strategische Tiefe der SOUTHAG und deren Streitkräfte im noch bis 1955 besetzten Österreich und der Schweiz sowie im Tito-Staat als potenziellen Operationsraum östlicher Armeen aufzuklären.
Heruntergebrochen auf Beschaffungsaufträge bedeutete dies, die Dislozierung und Infrastruktur von Streitkräften in Erfahrung zu bringen, geheime Aufmarschpläne des italienischen Militärs und selbst ihre Chiffrierverfahren zu beschaffen oder die Weisungen des Pariser Hauptquartiers der alliierten Streitkräfte in Europa zu erbeuten. Als Beifang fielen jedoch auch Informationen über die Südflanke der westlichen Militärallianz in Griechenland und der Türkei sowie auf der iberischen Halbinsel an – ja selbst Rezepturen von italienischen Impfstoffen.
Fast unbemerkt erhalten Leserinnen und Leser, die den spannungsreichen Verläufen folgen, eine Lektion in nachrichtendienstlicher Methodik. Das Potpourri des geheimdienstlichen Handwerks führt doppelte Identitäten und falsche Pässe, Decknamen und Tarnadressen, Erkennungszeichen und Parolen, Schließfächer und tote Briefkästen, Schleusungen über grüne Grenzen und abgelegene Trefforte wie Jagdhütten vor Augen.
Rein theoretisch gibt es zahlreiche Motive, die einen Menschen bewegen, als Agent tätig zu werden: politische Ideale, Rachsucht, Erpressbarkeit oder die Lust am Nervenkitzel. Rein praktisch dominiert aber eine andere Antriebsfeder: das finanzielle Interesse. Geld regiert auch die geheimdienstliche Welt. Die horrenden Summen, die der StB in seine Südtiroler Spione investierte, sprechen in den Armutsjahren der Nachkriegszeit als herausragender Grund Bände dafür und Franceschini bringt auch diese Tatsache auf den Punkt. Implizit muss man jedoch auch in Rechnung stellen, dass es vielen Südtirolern an Loyalität gegenüber dem italienischen Zentralstaat mangelte, der durch die Italianisierung der Region mit Schwerpunkt Bozen diese Abwehrhaltung der Deutschsprachigen nachhaltig schürte.
Spionage ruft nicht nur die allgemeine Spionageabwehr hervor, sondern auch die Krönung nachrichtendienstlichen Handels, die Gegenspionage, d. h. das Eindringen in gegnerische Geheimdienste vornehmlich durch die Gewinnung von Doppelagenten oder „countermen“. Das erste Kapitel zeichnet hier ein faszinierendes Hin und Her von Anwerbung und Überwerbung, von Seitenwechseln und Rivalitäten. Vom gewinnbringenden Verkauf von Falsifikaten über die Lieferung bloßen Spielmaterials bis hin zur selbstgefälligen Übertretung dieses Limits durch den Gedoppelten scheinen alle Facetten von List und Hinterlist auf.
Der Vorwortschreiber muss hier der Versuchung widerstehen, den Leserinnen und Lesern die Spannung zu rauben, indem er den Ausgang dieses Schattenkriegs vorwegnimmt. Nur so viel: Aufklärungserfolge des StB und Abwehrerfolge des italienischen „Servizio Informazioni Forze Armate“ (SIFAR) halten sich in den 1950er-Jahren wohl die Waage. Auf beiden Seiten waren sie allerdings verbunden mit der Unsicherheit, wer in Spiel und Gegenspiel zu welchem Zeitpunkt der Wahrheit näher kam und Punktsiege zu verzeichnen hatte.
Das zweite Kapitel gibt einen ersten Einblick in die Ausspähung separatistischer Bestrebungen, namentlich ihrer Speerspitze, des BAS (Befreiungsausschuss Südtirol). Entgegengesetzt hat der italienische Staatsapparat den Loslösungswilligen verschiedene Akteure, voran das „Ufficio Affari Riservati“ (UAR), aber auch die politische Polizei, die sich beide in großem Umfang auf ehemalige Angehörige der faschistischen Geheimdienste stützten und eng mit US-Diensten kooperierten. Der Südtiroler Stützpunkt in der Quästur Bozen führte dabei eine Handvoll Informanten. Nachrichtendienstlichen Seltenheitswert hat dabei die Tatsache, dass Polizisten aus ihren Privatwohnungen heraus als Agentenführer fungieren, selbst über ihren Ruhestand hinaus. Hier wie im Folgenden geht die Darstellung der Entstehungsgeschichte der Dienste und ihrer Struktur fließend in das operative Geschehen über.
Der Hauptfeind der rechten politischen Klasse und ihres mächtigen Stützpfeilers CIA waren jedoch kommunistische Bestrebungen und die im westeuropäischen Vergleich einmalig starke kommunistische Partei PCI. Der Autor macht die Bekämpfung dieses inneren Gegners im dritten Kapitel zunächst an der Biografie des italienischstämmigen CIA-Agenten Joseph Peter Luongo fest, der 1945 in Bozen landete und die Stadt 1996 fluchtartig verließ.
Was folgt, ist ein Feuerwerk teilweise miteinander verwobener Lebensläufe von Agenten, die sich bei den verschiedenen italienischen und US-amerikanischen Spionageorganisationen verdingen, oft genug als Diener mehrerer Herren. Ein Stelldichein gaben sich dabei italienische Faschisten, ehemalige SS-Leute – darunter schwer belastete Kriegsverbrecher – und katholische Geistliche, deren Wege sich in vielen Fällen schon vor 1945 gekreuzt hatten.
Einmal mehr wird in diesem Kapitel deutlich, dass Geheimdienste, die aufgrund gleicher Ziele an demselben Strang ziehen sollten, von Konkurrenzdenken geprägt sind, national zwischen dem US-Militärnachrichtendienst „Counter Intelligence Corps“ (CIC) und der CIA, zwischen dem italienischen Innenministerium und dem SIFAR, länderübergreifend zwischen diesen vier und weiteren Akteuren wie den westdeutschen Diensten von Reinhard Gehlen und Friedrich Wilhelm Heinz. Hinzu kommen agenturinterne Rivalitäten zwischen Alpha-Tieren und der Blick auf das Nachbarland Österreich als operative Basis.
Die nächsten Kapitel knüpfen an das zweite an und werfen die Frage auf, was die italienischen Sicherheitsbehörden über den 1957 gegründeten „Befreiungsausschuss Südtirol“ tatsächlich wussten. Die Antwort fällt zugunsten der Aufklärungsqualität aus. Der Umfang von 650 aktiven Kämpfern blieb ebenso wenig geheim wie der Schlachtplan zur Erkämpfung der Unabhängigkeit. Ausführlich stellt der Autor einen Höhepunkt der Gewaltausübung, seine Hintergründe und Abläufe dar, die Feuernacht vom Juni 1961, in der die Stromversorgung nicht nur Südtirols, sondern auch norditalienischer Industriezentren durch die Sprengung zahlreicher Strommasten lahmgelegt werden sollte. Vorausgegangen war dem bereits der missglückte Anschlag vom Februar 1960 auf die Rohbauten von Volkswohnhäusern in Meran. Eine weitere Eskalation brachte ein Brandanschlag auf eine für italienische Zuzügler bestimmte Neubausiedlung am Rand von Bozen mit sich. Ein blindwütiger Terrorakt, muss man ergänzen, war dieses Attentat nicht. Der seinerzeit in Innsbruck ansässige Militärhistoriker Heinz von Lichem kannte die Motive der aus Österreich unterstützten Drahtzieher. Es ging ihnen darum, inhaftierte Aktivisten der sogenannten Bumser freizupressen, die von der italienischen Polizei gefoltert worden waren. Und dieses Ziel wurde, verbunden mit der Drohung, weitere Brandanschläge zu verüben, auch erreicht.
Die vom militärischen Nachrichtendienst geforderten drastischen Maßnahmen wie Ausbürgerung von Rückoptanten, Ausweisung österreichischer Staatsbürger oder ein Einreiseverbot für österreichische Politiker stießen auf der politischen Ebene nicht auf Resonanz. Weder die Regierung in Rom noch die in Wien waren an einer Verschärfung der Lage interessiert, die Kräfte des Heeresnachrichtenamts in Innsbruck und italienische Geheimdienste im Sinn hatten.
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