Jörg Weigand - Die Welten des Jörg Weigand

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Jörg Weigand (* 1940) ist promovierter Sinologe, Journalist und Autor. Er produzierte nicht nur eine fast unübersehbare Anzahl sekundärwissenschaftlicher Artikel, diverse Fachbücher – darunter das legendäre Pseudonym-Lexikon – und gab Dutzende von Anthologien heraus, sondern schrieb auch eine dreistellige Anzahl von Kurzgeschichten. In diesen reflektiert Weigand oft den jeweiligen Zeitgeist und greift brisante politische und gesellschaftliche Themen auf. Sehr nützlich waren ihm hier seine eigenen Erfahrungen als langjähriger Politjournalist und Reporter, aber auch als Reserveoffizier. Aus einer Idee kocht er die Essenz heraus, um diese dann oft auktorial, teils dokumentarisch beschreibend, niederzulegen; bisweilen geschieht das in einer beiläufigen Brutalität, die den Leser erst im Nachhinein oder beim nochmaligen Lesen schockiert.
In diesem Band werden seine besten phantastischen Geschichten zusammengefasst.

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Die Erde ist hier knochentrocken und hat teilweise mehrere hundert Meter lange Risse. Wo man hintritt, wallt feinpulvriger Staub auf. Den Regen vorletzte Nacht muss das Land wie ein Schwamm geschluckt haben. Ein Tropfen auf den heißen Stein. Durch meine Sauferei gestern Abend, aber auch wegen des verteufelten Staubs überall, habe ich einen solchen Brand, dass ich schon fast eine ganze Flasche Bourbon ausgetrunken habe. Mein Kopf fühlt sich an wie ein wattegefüllter Ballon.

Die Menschen liegen hier auf den Straßen, auf den Feldern, in den Häusern, kurz überall herum und regen sich nicht mehr. Ausgemergelte Gestalten, denn flüssige und feste Nahrung fehlt. Was mir fehlt, ist »Action«! Ich traf einen UN-Beauftragten, der sich vor Ort ein Bild von der Katastrophe machen wollte. José war gerade am anderen Ende und versuchte, ein Interview mit einem Bauern zu erhalten. Der UN-Beauftragte schätzt die Zahl der bisherigen Toten auf über hunderttausend. Ich habe ihn sofort vergattert, dass er diese Zahl vorerst – zumindest bis morgen – zurückhält. So habe ich sie exklusiv und kann drum herum eine tolle Rührstory bauen. Den Bildteppich dazu habe ich hier vor der Nase.

2. Juni

Heute Morgen habe ich meine Frau angerufen. Meine Kurzberichte sind alle gelaufen. Silvie hat sich bei WW-TV erkundigt, dort scheint man ganz zufrieden mit meiner Arbeit zu sein. Jedoch hat Silvie von Wolf Maier gehört, das Bildmaterial sei manchmal schwach gewesen. Verdammt, sollen die doch einmal selbst hierher in den Dreck kommen und die Scheiße drehen. Aber trotzdem: Ich muss mich halt anstrengen, dass ich noch stärkeres Material aufreiße. WW-TV zahlt gut, ich möchte sie mir nicht vergrätzen.

Silvie kann einen manchmal richtig nerven. Hat sie mir doch noch am Telefon mitgeteilt, dass sie einen neuen Wagen haben will. Dabei ist der jetzige, das neueste Methanol-Modell, noch kein halbes Jahr alt. Ich habe erst einmal abgelehnt, so leicht verdiene ich mein Geld schließlich auch nicht. Aber dann hat sie am Telefon einen solchen Zirkus veranstaltet, dass ich schließlich doch zugestimmt habe. Aber ich habe mir ausbedungen, dass sie mit dem Kauf wartet, bis ich wieder zu Hause bin.

Sonst Routine. Der Monsun kündigt sich an. Ich wollte es zuerst nicht glauben, denn er kommt vor der Zeit, doch José Amadillo, der sich in dieser Gegend besser auskennt, hat mich auf den schweren nächtlichen Regen vor einigen Tagen hingewiesen.

Nun, das ergibt dann hoffentlich doch noch starke Bilder.

3. Juni

Ein harter Tag liegt vor mir. Ich muss die letzten Bilder drehen. WW-TV hat mich zurückgerufen. In Afrika gibt es irgendwo einen Volksaufstand, das sei im Augenblick wichtiger und zugkräftiger als Indien, schreibt Wolf Maier in dem Telegramm, das mir der Zimmerboy heute Früh unter der Tür durchgeschoben hat. Maier hat nicht so unrecht; schließlich sterben jeden Tag irgendwo auf der Welt soundso viele Menschen an Hunger, aber Revolutionen gibt es gar nicht mehr so häufig.

Mir soll’s recht sein. Die eine Woche hier reicht mir. Ich muss aber unbedingt noch genügend Monsunbilder zusammenkriegen, denn seit heute Nacht fällt das Wasser nur so vom Himmel. Zwar habe ich schon einige Einstellungen, aus dem Dorf, damals nach dem Regen. Aber es geht um die Atmosphäre, die ich als Ergänzung zu meinen Dürrebildern brauche. Auch dem Feature wird es gut tun, wenn ich es ein wenig mit entsprechendem Material anreichere.

Um die aktuellen Kurzberichte kümmere ich mich nicht mehr, dafür habe ich keine Zeit. Das kann die Redaktion aus dem Materialangebot der Agenturen nehmen. Ich frage mich nur, wann hier, bei diesen hygienischen Verhältnissen, die Cholera ausbricht … Heute Nachmittag um sechzehn Uhr geht meine Maschine. Ich darf nicht vergessen, mit Wolf Maier dieselben günstigen Konditionen für Afrika auszuhandeln wie für den hiesigen Einsatz.

Pepes Welt (1981)

Tag für Tag umlagerten die Kinder den alten Mann, der am Rande des von knorrigen Bäumen eingefassten Platzes hockte. Es schien sie wenig zu stören, dass der Alte blind war. Anfangs blickte jeder Neuankömmling scheu auf die riesige, gezackte Narbe, die quer durch das über und über mit Runzeln bedeckte Gesicht lief, doch noch jeder hatte sich schnell daran gewöhnt, sobald ihn der Zauber der Geschichten, die der Blinde mit ruhiger, aber ausdrucksstarker Stimme erzählte, in Bann geschlagen hatte.

So hockte der Alte im Staub des Platzes, unbeeindruckt vom Gequirle der Menschen, dem Gestank der kleinen Sojabohnen-Siedestellen in den Hinterhöfen dieses Elendsviertels, dem Gehämmere der Behelfsschmieden und dem Geschrei der Händler, die Frauen mit verhärmten Gesichtern ihre Waren aufschwatzen wollten. Denn sehen konnte er das ärmliche, wenn auch bunte Treiben nicht mehr, und wenn er auch als Blinder Geräuschen gegenüber besonders empfindlich war, so ließ er sich doch nichts anmerken.

Umlagert von der jungen Schar, machte der Alte Tag für Tag den gleichen zufriedenen Eindruck. Und immer wieder bettelte eins von den Kindern: »Pepe, erzähl’ uns eine Geschichte.«

Und der Blinde erfüllte den Wunsch; doch kaum hatte er ausgesprochen, da baten sie erneut: »Bitte, Pepe, noch ein Geschichte. Nur noch eine, du weißt schon, die mit dem .Häschen.«

Und ein anderer, der Jüngste unter ihnen, bettelte: »Nein bitte, erzähl noch mal, wie du auf dem fremden Planeten gelandet bist, da oben, ganz weit weg.«

Oder da war das Mädchen mit dem wirren, blonden Haarschopf, die zerlumpte Puppe unterm Arm. Obwohl bereits acht Jahre alt, lutschte es noch immer eifrig am Daumen, doch nun nahm es den Finger heraus, musterte mit seinen strahlend blauen Augen aufmerksam den Alten und meinte: »Mir gefällt immer am besten, wenn Pepe von großen Geschäften erzählt; mit den vielen Spielsachen, den Teddys und den Puppen mit den Kulleraugen.«

Geduldig trug der Blinde das Gewünschte vor, wohl wissend, dass dies sicherlich nicht die letzte Geschichte war, die er heute würde erzählen müssen. Denn war diese zu Ende, würde es wieder heißen: »Eine allerletzte Geschichte noch, Pepe, bitte.«

So ging es jeden Tag, bis die Sonne am Horizont versank und die Kinder von ihren Müttern zum abendlichen Essen gerufen wurden. Dann verschwanden die Kleinen in den halbverfallenen Wohnblocks, in den Behelfshütten zwischen Bergen von Unrat und nahmen in ihre Träume ein wenig von dem mit, was ihnen Pepe mit seiner ruhigen Stimme erzählt hatte.

Eines Tages jedoch zuckten die Kinder erschrocken zurück, als dunkle Schatten auf sie fielen, während sie dem Blinden gebannt zuhörten.

Hinter ihnen standen Mitglieder der Sicherheitspatrouille, die fast nie und dann nur nachts in dieser Gegend auftauchte. Die fünf Männer in ihren schwarzen Uniformen standen im Halbkreis um die kauernde Kinderschar und starrten auf den Alten, der nun – aufmerksam geworden – seine toten Augen in die Richtung der Störenfriede hob: »Ist was, Kinder?«

Das klang nicht irgendwie schüchtern, eher sprach Neugier aus der Frage.

»Können Sie sich ausweisen?« fragte der Truppführer, der die Sicherheitspatrouille befehligte. Obgleich keinerlei Gefahr sich abzeichnete, lag seine Rechte vorsorglich auf der Elektropeitsche, die an seinem Gürtel hing.

»Aber sicher«, antwortete der Blinde und richtete sich aus der Hocke auf. »Wer sind Sie denn, wenn ich fragen darf?«

»Fragen kannst du wohl«, war die Entgegnung, der Ton war merklich barscher geworden, »Aber du willst doch wohl keine Antwort darauf …«

Der Alte zuckte zurück.

»Gleich. Sofort, mein Herr!« Er nestelte an seinem geflickten Gewand und hielt die Hand mit dem Ausweis der barschen Stimme entgegen.

»Gib schon her!« Der Truppführer riss ihm das Papier aus der Hand und warf einen flüchtigen Blick hinein.

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