Ich beichtete ihr meine Bedenken, doch sie lachte mich mit ihrer glockenhellen Stimme aus.
»Du bist ein rechter Dummkopf, da brauchst du doch keine Angst zu haben. Schlimm wäre mir nur, wenn ich über dieses Jahr hinaus weiter so schuften müsste. Das könnte ich nicht mehr verkraften, ich glaube, dann würde ich lieber …«
Ich schämte mich ein wenig, denn in Wahrheit war ja sie die Belastete, und jetzt machte ich ihr mit meiner egoistischen Eifersucht auch noch das Leben schwer. Ihre Nerven waren lange nicht mehr die besten. Oft genug in den vergangenen Wochen war sie in Heulkrämpfe ausgebrochen und hatte mir anschließend ihr Leid ausgeschüttet. Mein Versuch, ihr Trost zuzusprechen, endete meist in der Prophezeiung vom baldigen Ende der Tortur. Doch was, wenn es weiterging?
Sonst fühlte ich mich in jenen Tagen beschwingt. Ich war glücklich, denn ich liebte Bellinda. Und ich war zufrieden darüber, dass sie mich mochte. Das Wort »Liebe« freilich gebrauchte sie mir gegenüber nie, doch war mein Gefühl für sie so stark, dass ich über ihre Zurückhaltung hinwegsah.
Am dreißigsten Dezember lief Bellindas Vertrag über das Aufbaujahr ab. Ich hatte in den vergangenen Tagen wenig Gelegenheit gehabt, sie zu sehen; zwischen den Feiertagen fuhren wir nur halbe Schichten, doch das Programm lief weiter, und so hatten wir alle Hände voll zu tun – mehr als gewöhnlich.
An jenem Dreißigsten kam ich in den Computerraum gestürzt, denn ich war etwas spät dran. Mein Wagen war nicht angesprungen, und ich hatte zuletzt ein Taxi rufen müssen. Peter Melchior saß an der Eingabetafel und begrüßte mich freundlich, eigentlich freundlicher, als es sonst seine Art war.
»Wir haben das Bellinda-Programm abgeschlossen«, rief er mir entgegen. »Jetzt wird die Arbeit für uns noch interessanter. Ab Januar werden wir simulieren, die erste Produktionsanmeldung liegt schon vor.«
Ich grüßte zurück, achtete dabei wenig auf das, was er mir sagte, und betrat den Ablageraum, um mich um die neuangelieferten MAZ-Bänder zu kümmern.
Da wurde die Tür wieder aufgerissen, und Sommer stürzte herein. Ich stand verdeckt hinter der Ablage, sodass er mich nicht sehen konnte.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er Melchior.
»Aber sicher.«
»Was macht das Mädchen?«
»Es hat sich bereits nach dem Folgevertrag erkundigt.«
»Verdammt.« Sommers Stimme wurde wütend, steigerte sich in der Lautstärke. »Das Direktorat hat erst vor wenigen Tagen noch einmal darauf aufmerksam gemacht, dass wir uns einen solchen Starvertrag über Jahre hinweg nicht erlauben können. Im Parlament wollen sie uns sowieso den Etat zusammenstreichen. Und nach einer solchen Ausbildung, wie sie das Mädchen bei uns bekommen hat, und vor allem bei ihrer Wirkung auf Männer könnte die doch verlangen, was sie will.«
»Vorsicht, da …« Melchior versuchte offensichtlich, seinen Vorgesetzten auf meine Anwesenheit aufmerksam zu machen. Doch dieser achtete nicht darauf.
»Haben Sie an Paragraph 17 c gedacht?«
»Ja, Herr Sommer.«
»Na, und?«
»Ich habe sie informiert, dass unser gesamtes Programm durch einen technischen Defekt unbrauchbar geworden ist und dass wir die nächsten zwölf Monate dazu benützen müssen, das Programm neu zu erstellen.«
Aber das stimmt doch gar nicht, wollte ich rufen, besann mich aber. Hatte nicht Melchior gerade noch fröhlich verkündet, dass wir mit Beginn Januar mit der Simulation beginnen würden? Simulation?
In meinem Magen krampfte sich plötzlich alles zusammen. Die Angst griff nach mir.
Bellinda!
Wo war sie? Sofort musste ich sie darüber informieren; dass das alles gar nicht stimmte, was Melchior ihr erzählt hatte. Dass alles Lüge war …
Ohne auf Sommers erstaunte Blicke zu achten, drückte ich mich an ihm vorbei und stürzte hinaus.
Ich fand sie in der Garderobe. Mit der Nagelschere hatte sie sich der Länge nach die Pulsadern aufgeschnitten. Sie wusste, wie man das sachgemäß anstellen musste, denn erst kürzlich hatte sie vor der Kamera eine solche Szene spielen müssen.
Sie saß vor dem Spiegeltisch, ihr Kopf war nach vorne gefallen, die kastanienbraunen Haare schwammen im blutigen Wasser des Waschbeckens, in das ihre Hände hineinhingen.
Ich griff nach dem Puls. Nichts.
Ich alarmierte unseren Hausarzt. Zu spät.
Am Boden fand ich ein Blatt Papier. Sie hatte nur wenige Sätze darauf geschrieben.
Mark.
Sei mir nicht böse. Aber noch ein ganzes Jahr kann ich das nicht ertragen. Bitte, versteh mich. Ich hatte gehofft, doch das ist zu viel. Ich bin auch nicht mehr Beate Michalowski.
Bellinda
Ich war wie betäubt.
Kein Wort der Liebe. Keine Bemerkung, die uns beide betraf. Ihr Beruf war ihr doch über alles gegangen, und sie war so bitter enttäuscht worden.
Ich dachte an Sommers Erwähnung der vertraulichen Dienstanweisung, die ich als kleiner Subalterner nicht kannte. Und ich dachte an Melchiors fröhliches Gesicht, als er mir die Simulation für Januar angekündigt hatte.
Ja, jetzt konnten wir Bellinda simulieren.
Ich stürzte hinaus, ich hielt es nicht mehr aus in diesem Raum, in diesem Gebäude, unter diesen Menschen.
Draußen war ein klarer Wintertag. Gegenüber dem Fernsehgebäude errichteten Arbeiter eine riesige Anschlagwand, die Bellinda, meine Bellinda, zeigte. In übergroßen Lettern schrie es mir entgegen:
SENSATION!
IM NEUEN JAHR
BELLINDA SUPERSTAR
DIE GROSSE ENTDECKUNG
DER KOMMENDEN JAHRE!
Sie hatte erreicht, wovon sie geträumt hatte: Sie war Bellinda Superstar …
Immer am Ball (1981)
27. Mai
Heute Vormittag kam Order von der World Wide TV-News: auf dem schnellsten Wege nach Indien. Da ich die vergangenen Tage vor der kanadischen Küste das Abschlachten der allerletzten Robben gedreht habe (tolle Bilder; die neue 4-DX-Video-Kamera vermittelt den Eindruck, als spritze einem das Blut direkt ins Gesicht), bin ich nicht auf dem Laufenden. Nach allem, was ich bisher weiß, scheinen in Bangladesch wieder eine Menge Menschen am Verhungern zu sein. Eigentlich scheußlich, solche Verhungernden, aber ich habe das schon einmal mitgemacht. Man gewöhnt sich an alles; nichts als Routine.
WW-TV hat mehrere aktuelle Berichte und ein Fünfundvierzig-Minuten-Feature bestellt. Feine Sache, damit ist eine Menge Geld zu machen. Vor der Abreise muss ich aber noch mit Wolf Maier von der WW-TV sprechen, diesmal sollen die mir nicht die Butter vom Brot nehmen; die ausländischen Verwertungsrechte müssen bei mir bleiben. Besonders da ich mir vorstelle, das Feature diesmal um den Themenkreis »Mutter – Kind« herumzubauen. Wenn so ein halbverhungertes Kleines mit brauner Haut über dem aufgequollenen Bauch an den schlaffen Brüsten der auch schon fast toten Mutter kaut – das sind Bilder, die den Zuschauer ansprechen. Und so was lässt sich auch spielend international vermarkten.
Vor der Abreise.
Gerade war ich bei Maier. Alles geregelt. Zuerst wollten die bei WW-TV einen Aufstand veranstalten, aber dann haben sie doch klein beigegeben. Besonders als ich ihnen das Telex unter die Nase hielt, auf dem International Sensation mich aufforderte, für sie in Bangladesch zu drehen. Gut, dass ich Ted bei IS-TV kenne; irgendwann werde ich ihm den kleinen Freundschaftsdienst mit dem getürkten Telex schon vergelten können.
Habe die Kamera noch einmal durchgecheckt. Alles okay. Nur das Zoom wollte zuerst nicht recht; irgendein Schmutzpartikelchen muss sich an der Schiene festgesetzt haben. Mit dem Staubpinsel war schließlich auch das in Ordnung zu bringen. Seitdem die TV-Anstalten sparen und nur noch Einmann-Berichterstatter bezahlen wollen, muss ich besonders sorgfältig darauf achten, dass mit der Kamera immer alles in Ordnung ist.
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