Dann aber war für den Rest des Tages nicht mehr viel mit mir anzufangen. Immer wieder sah ich jene hellblauen Augen vor mir, im Kontrast dazu die kastanienfarbenen Haare, die kleine gerade Nase … Ich glaube, ich hatte mich damals schon, gleich bei der ersten Begegnung, hoffnungslos in Bellinda verknallt.
Ob da nun bei mir ein besonderer Funke gezündet hatte oder ob die Auswahl der Fernsehanstalt so zielsicher erfolgt war, dass einfach alle Männer auf die Ausdruckskraft des lieben Gesichts ansprangen, darüber möchte ich nicht zu lange nachdenken. Die erste Erklärung ist mir lieber, sie lässt mir mehr individuelle Befriedigung; andererseits ist der große, ja überwältigende Erfolg von »Bellinda Superstar« eine Tatsache.
Damals freilich konnten alle nur auf so einen Erfolg hoffen. Bellinda wäre, bei all ihrer Bescheidenheit, sicherlich auch mit weniger Erfolg zufrieden gewesen – zumindest am Anfang, denn im Laufe des Aufbaujahres entwickelte sie einen recht beachtlichen Ehrgeiz. Vielleicht hätte sie sonst die folgenden Monate auch gar nicht durchhalten können.
In der Folgezeit traf ich, auch in meiner Eigenschaft als Computertechniker, öfter mit Bellinda zusammen. Zwar war ich der Jüngste in der Mannschaft der Computerzentrale, doch bei uns muss jeder, ohne Ansehen der Person und seiner Dienststellung, überall einsetzbar sein. Daher wurde ich auch zur Gesamtfeldprogrammierung von »Bellinda Superstar« herangezogen.
Man hatte das Programm einfach nach dem Star genannt, um den sich zwölf Monate lang alles drehte. Eigentlich müsste ich sagen: nach dem zukünftigen Star, doch für mich war Bellinda von Anfang an etwas Besonderes.
Bei dem Programm, das mit der bei uns üblichen sporadischen Hektik durchgezogen wurde, ging es um Folgendes:
Die Gesamtpersönlichkeit Bellindas, ihr Verhalten, ihre Gesten, ihre Mimik, ihre Sprachgewohnheiten – all das und noch vieles mehr mussten eingespeichert werden, um schließlich nach Beendigung des Programms im Personality-Generator ein hundertprozentiges Bild der Person Bellinda zu ergeben. Das hört sich sehr kompliziert an, aber so schlimm war es eigentlich nicht. Es dauerte nur seine Zeit und verlangte eine ungeheuer konzentrierte Kleinarbeit.
Das fing damit an, dass Bellinda bei allen nur irgend denkbaren Bewegungen und Tätigkeiten des täglichen Lebens mit der E-Kamera beobachtet und das Ganze auf Magnetband aufgezeichnet wurde. Die Elektronik erlaubt schärfere Konturierung als der Film, und auch kleinste Details erfahren so eine einwandfreie Wiedergabe. Dazu noch wurde das Geschehen auf dem Einzollband gespeichert und nicht auf dem Viertelzoll, das wir eigentlich seit vielen Jahren auch professionell nutzen. Ich bin kein Techniker der magnetischen Aufzeichnung, aber wie die Kollegen mir das erklärt haben, scheint die Viertelzoll-MAZ aus schnitttechnischen Gründen für die Gesamtfeldprogrammierung weniger geeignet zu sein als das Einzollband.
Bei den Aufnahmen im Freien, in irgendwelchen Autos, Flugzeugen oder Eisenbahnabteilen, aber auch bei der Arbeit im Studio erwies sich Bellindas schauspielerische Begabung. Sogar die schwierigsten Rollen meisterte sie auf Anhieb mit einer Selbstverständlichkeit, die selbst alte Füchse im Fernsehgeschäft staunen machte. Ich konnte ihr immer wieder zusehen oder ihre Leistung auf den Bändern während des Schnitts beobachten; ich war ihr von Herzen zugetan, doch noch darüber hinaus war ich von ihren Fähigkeiten tief beeindruckt.
Diese Arbeit beanspruchte während der Dreharbeiten Bellindas volle Aufmerksamkeit; es war nicht leicht, den Wünschen der Regie, der Aufnahmeleitung, der Technik oder der Kamera immer gerecht zu werden. Oft ging es um winzige Kleinigkeiten, um Nuancen wie einen Augenaufschlag, ein Lächeln, ein Herabziehen der Mundwinkel.
Waren die Aufnahmen im Kasten, dann begann unsere Aufgabe. Jede Bewegungseinheit wurde in kleinste Aufbauteilchen zerlegt, sogenannte »Bits«, aus denen man umgekehrt wieder ganz neue Bewegungsabläufe zusammensetzen konnte, vorausgesetzt, man hatte vorher alle nötigen Bits gespeichert. Oft mussten neue Kameratermine anberaumt werden, da wichtige Zwischenglieder fehlten.
Diese Bits nun mussten nach Art, Rhythmus, Schnelligkeit, Bewegungsrichtung usw. klassifiziert und anschließend zum Verbleib in den Fixwertspeicher eingegeben werden. Von dort waren sie dann jederzeit abrufbereit.
Für Bellinda war das eine ungeheure physische, aber auch psychische Anstrengung; ihr wurde das Letzte abverlangt. Doch sie ertrug alles mit gleichbleibend guter Laune, ihre Kraftreserven waren erstaunlich.
Doch nach einem halben Jahr war es mit ihrer Kraft zu Ende. Sie konnte nicht mehr.
Es war ein heißer Augusttag. Die Sonne brütete über der Stadt, schon beim Aufstehen hatte ich einen Schweißausbruch. Ich war zur Spätschicht eingeteilt, musste also nicht vor vierzehn Uhr im Dienst erscheinen. Als ich den technischen Trakt betrat, kam mir Bellinda entgegen.
Wir hatten uns in den letzten Monaten angefreundet, waren vertraut miteinander geworden. Wie es um sie stand, war mir nicht klar, da sie sich nie dazu äußerte, ich jedenfalls war hoffnungslos in sie verliebt.
Sie trug ein luftiges Kleidchen aus blauem Stoff, passend zu den Augen. Ein viereckiger Ausschnitt ließ mehr von ihrem wohlgeformten Körper sehen als üblich. Sie sah so reizvoll aus, dass mir das Blut ins Gesicht schoss. Obgleich ich längeres Haar vorgezogen hätte, trug sie immer noch ihre kurze Frisur.
»Das gehört zu meinem Typ«, hatte sie mir einmal erklärt. Ich dagegen war davon überzeugt, dass zu ihrem Typ ebenso langes Haar passen würde. Aber einem Argument musste ich mich schließlich beugen: Die Aufnahmen verlangten immer gleiches Haar.
»Ich habe eine Stunde Zeit«, sagte Bellinda zur Begrüßung. »Wollen wir ein wenig durch die Anlagen laufen?«
Ein Gedanke, der mir sehr gefiel. Ein kurzes Telefonat, und ein Kollege übernahm für die nächste Stunde meinen Job am Eingabepult des Computers. Irgendwann einmal würde ich ihm zum Ausgleich auch einen Gefallen erweisen können.
Wir schlenderten unter den hohen Pappeln und Birken dahin, die in einem breiten Parkgürtel an der Hinterfront des Gebäudes der Fernsehgesellschaft angesetzt sind. Schon bald schien Bellinda müde zu werden, sie wollte sich auf eine Bank setzen. Ich merkte ihr die Erschöpfung an; sie saß mit geschlossenen Augen und atmete tief die Luft ein, die hier im Schatten der Bäume frischer war als in den Häuserschluchten.
»Hat es heute etwas Unangenehmes gegeben?«, fragte ich sie besorgt, legte meinen Arm um ihre Schulter und zog sie an mich.
Sie sträubte sich nicht, schüttelte nur mit dem Kopf und sah mich an. Ihr Blick besaß nicht die gewohnte Kraft der Ausstrahlung. Und als ich ihr in die Augen schaute, nach Anzeichen irgendwelchen Ärgers oder Schwierigkeiten forschte, da lehnte sie plötzlich ihren Kopf an meine Schulter und begann zu weinen. Ich fühlte mich hilflos, wusste nicht, was tun, wischte dann ihre Tränen ab und fuhr ihr mit der Hand übers Haar, bis sie sich schließlich wieder beruhigte.
Ich wartete ab, dann begann sie, zu erzählen.
»Weißt du, Mark, wahrscheinlich kann sich das niemand vorstellen, was das heißt, jeden Tag – manchmal ohne Unterbrechung stundenlang – vor dem Fischauge der Kamera zu stehen, sich zu bewegen, wie man es dir sagt, irgendwelchen Anweisungen des Regisseurs oder des Kameramanns zu folgen. Du verlierst mit der Zeit den Sinn für die Wirklichkeit. Am schlimmsten ist, dass du immer wieder die gleichen Gesten ausführen, die gleiche Szene spielen musst.«
Ich konnte mir das schon vorstellen, hatte ich doch so manches Mal ihre Geduld, ihre Zähigkeit bewundert. Es erschütterte mich dennoch, Bellinda so niedergeschlagen zu erleben.
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