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Man schrieb den 16. Juli 1950, und die Uhren in Rio de Janeiro zeigten auf 16:33 Uhr, da brachte Uruguays Linksaußen Alcides Ghiggia das Maracanã zum Schweigen (lange bevor Frank Sinatra und Papst Johannes Paul II. Vergleichbares erreichen sollten). 200.000 Menschen, die sich des Sieges ihres Teams so sicher gewesen waren, verstummten. Doch nun schlug Uruguay tatsächlich Brasilien und nahm zum zweiten Mal die WM-Trophäe in Empfang.
In seinem Kommentar im Jornal dos Sports schrieb der brasilianische Journalist Mario Filho: „Die Stadt hat ihre Fenster verrammelt und ist in Trauer versunken. Es war, als hätte jede Brasilianerin und jeder Brasilianer einen geliebten Menschen verloren. Oder, noch schlimmer, als hätte jeder Brasilianer seine Ehre und Würde verloren.“ Der Dramatiker Nelson Rodrigues, ein Landsmann Filhos, sprach von einem „Schock, einem seelischen Hiroshima“. Es herrschte unendliche Traurigkeit, es gab Tränen, Herzinfarkte und Selbstmorde.
Uruguay hingegen war in Feierstimmung. Und dann gab es da noch den Kapitän Obdulio Varela, der sich mit dem Ball unterm Arm die Zeit nahm, die brasilianischen Seelen zu trösten; ein Mann, der bis tief in die Nacht hinein mit den Verlierern trank und weinte und der später sagte: „Mit dem Hellblauen auf der Brust werden wir zu Edelmännern.“ Varela wurde zur Legende, zu einem Symbol des Erfolges und der garra charrúa . Bald 70 Jahre sind seit jenem schicksalhaften Spiel vergangen, doch in Uruguay ist es noch immer Gesprächsthema. Es wurden Bücher geschrieben und Dokumentarfilme gedreht über die ruhmreichen 90 Minuten. Niemand hat das Maracana ç o vergessen; es wird weiterhin sowohl als positiver als auch negativer Wendepunkt gesehen.
Mario Romano interpretiert die WM 1950 aus rein sportlicher Perspektive: „Maracanã war ganz sicher ein Höhepunkt in der Fußballgeschichte Uruguays; es war der größte sportliche Erfolg. Danach wurde die garra charrúa gefeiert, dass man trotz vermeintlich aussichtslosem Kampf niemals aufgab, wie David gegen Goliath. Aber die Kehrseite der Medaille war, dass nur noch Platz eins zählte. Als die Nationalmannschaft bei der WM 1954 in der Schweiz Vierter wurde, wurde das allgemein als Versagen gewertet, genau wie der vierte Platz bei der WM 1970. Erst 60 Jahre später wurde er gewürdigt und bei der WM in Südafrika wie ein Titel gefeiert.“
„Das Problem ist nicht der Titelgewinn, der ja nun mal Fakt ist, sondern die Lehren, die man daraus zog“, ergänzt Maiztegui. „Nämlich: Wir Uruguayer gewinnen das, wofür andere hart arbeiten und sich lange vorbereiten müssen, allein mit unserer garra charrúa und Schläue.“
Juan Alberto Schiaffino, ein ganz Großer am Ball, bekannte mir gegenüber: „Wird man denn niemals sagen, niemals schreiben, dass wir Brasilien einfach deshalb geschlagen haben, weil wir tollen Fußball gespielt haben? Wird man weiterhin sagen, dass es die Klaue war, der uruguayische Charakter, der uns angeblich zu Machos und schlauen Füchsen macht? Genau diese fixe Idee hat uns geschadet, dem Fußball wie auch dem Land selbst.“
Pepe Mujica hat einmal gesagt, dass die Uruguayer nach dem Erfolg eingeschlafen seien und im darauffolgenden Jahrzehnt der Niedergang der einst so reichen Nation folgte. Auch Maiztegui meint: „Europa hatte ja 1950 noch ganz andere Sachen im Kopf als Fußball. Es baute allmählich seine Industrie, sein Sozial- und Produktionssystem wieder auf und schickte sich an, wieder seine alte Rolle auf der Weltbühne einzunehmen. Uruguay und eigentlich ganz Lateinamerika dagegen hatten es nicht verstanden, die an sich hervorragenden Voraussetzungen für eine Industrialisierung auszunutzen und ihr Wachstum zu verstetigen. Stattdessen fiel man zurück, genau wie der Fußball auch.“
Doch wer sich so sehr auf seinen Lorbeeren ausruht, entwickelt sich in Sachen Kondition, Taktik und Strategie nicht weiter. Ab Mitte der 1950er Jahre kehrten sich dann auch noch die Migrationsströme um, die bis dahin tausende Einwanderer nach Uruguay hineingespült hatten. Der Exodus nach Europa betraf auch Fußballspieler. Maiztegui: „Beispiele dafür sind Schiaffino und Ghiggia, die in Italien bei Milan und der Roma landeten. Oder José Santamaría, der nach der WM in der Schweiz zu Real Madrid ging und in den 1980er Jahren sogar die spanische Nationalmannschaft trainierte. Tja, selbst in den finstersten Zeiten unserer Geschichte haben wir immer noch Fleisch und Fußballspieler exportiert.“
Die schwärzesten Tage dieser Geschichte begannen am 27. Juni 1973. Präsident Juan María Bordaberry löste das Parlament auf und errichtete mit Unterstützung der Armee eine bis 1985 bestehende zivil-militärische Diktatur. Die Opposition wurde aufgelöst, die Spitzen der politischen Linken und der Gewerkschaften inhaftiert und ihre Führer gefoltert. Unter ihnen war auch Pepe Mujica, der wegen seiner Mitgliedschaft in der Guerillagruppe Movimiento de Liberación Nacional – Tupamaros insgesamt 13 Jahre im Gefängnis verbrachte. Doch selbst die Führer der traditionellen Parteien wurden eingekerkert. Bordaberry erklärte außerdem sämtliche bürgerlichen Freiheiten und Grundrechte für ungültig.
Auch Maiztegui war betroffen und musste während der Zeit der Diktatur nach Spanien fliehen. Er meinte: „Das Regime machte alle strukturellen Probleme des Landes nur noch schlimmer. Alles ging kaputt. Erst heute kriegen wir langsam das zurück, was uns in dieser Zeit verloren gegangen ist, nach 50 Jahre Nostalgie und Stagnation plus der Finanzkatastrophe von 2001/02, die 40 Prozent der Bevölkerung auf Armutsniveau zurückließ.“
2005 kam dann die Wende: Das linke Parteienbündnis Frente Amplio („Breite Front“) gewann die Wahlen. Die Wahl José Mujicas zum Präsidenten 2009 war ein weiterer Schritt in die richtige Richtung. Während die Arbeitslosigkeit im Jahr 2002 noch bei 21 Prozent lag, sank sie bis 2011 auf 6,1 Prozent. Die Haushalte haben wieder mehr Kaufkraft, die Sozialpolitik verändert das Gesicht des Landes. Im Bildungs- und Gesundheitswesen ist immer noch viel zu tun, aber Uruguay ist kein Land mehr, aus dem man lieber abhaut.
Die Hoffnung ist also zurück, und davon profitiert auch der Fußball. So wurde die Nationalmannschaft 2011 bei der Copa América in Argentinien Vierter. Romano erklärt das so: „Die Geschichte hat sich wiederholt. Einmal mehr haben die äußeren Bedingungen den Fußball beeinflusst, auch wenn wir immer noch strukturelle Probleme haben. Abgesehen von Peñarol und Nacional spielen in der Liga kaum Mannschaften, die international wettbewerbsfähig sind. Die Qualität ist nicht sehr hoch. Deshalb interessieren sich auch keine TV-Sender aus dem Ausland für unseren Fußball.“
Romano weiter: „2006 startete Uruguay mit einem einheitlichen Ausbildungssystem. Auch ihm ist es zu verdanken, dass es die U17 und die U20 in ihren jeweiligen Altersklassen 2011 und 2013 bis ins Finale der WM geschafft haben. Allerdings hat Uruguay definitiv nicht die Sponsoren und den Etat, mit dem Brasilien und Argentinien oder Italien und England planen können.“
Sein Fazit: „Der größte Unterschied zwischen dem Fußball in Uruguay und anderswo auf der Welt sind die Strukturen: Es fehlt die Infrastruktur, um den Nachwuchs auszubilden, und es fehlt die entsprechende Politik. Trotzdem bringen wir unglaublicherweise – durch die vielen Aktiven, durch die Ernährung mit viel Fleisch und Milchprodukten – regelmäßig starke Spieler hervor, die auf jedem Niveau mithalten können. Spieler wie Luis Suárez machen die Fans stolz, Uruguayer zu sein.“
KAPITEL 2
Thermalquellen, Orangen und Kinderliga
Die frühe Kindheit in Salto
Señora Gladys war 84 Jahre alt, als ich sie besuchte, sah aber jünger aus. Sie trug einen hellblauen Pullover, eine Halskette mit passenden Ohrringen und eine pfiffige Brille. Soeben war sie mit ihren Einkäufen in der Hand aus einem Laden gekommen und über die Straße geeilt. Anschließend hatte sie freundlich ihre Besucher begrüßt und ihnen die Tür geöffnet, wachsam beäugt von einer wuscheligen schwarzen Katze, die wie ein Gartenzwerg auf der Mauer saß.
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