Luca Caioli und Cyril Collot
MEGANRAPINOE IKONE
Aus dem Französischen von Annika Klapper
Im Text des Buches werden häufig nur die Maskulinformen der Substantive verwendet – damit sind in der Regel beide Geschlechter gemeint.
Aus dem Französischen von Annika Klapper
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.
© Luca Caioli, Cyril Collot 2020
Copyright der deutschen Ausgabe: © 2020 Verlag Die Werkstatt GmbH
Siekerwall 21, D-33602 Bielefeld
www.werkstatt-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
Satz und Gestaltung: DIE WERKSTATT Medienproduktion GmbH
ISBN 978-3-7307-0526-1
INHALT
BORN IN THE U.S.A.
DAS TRADITIONSBEWUSSTE AMERIKA
EINE GROSSE FAMILIE
TOMBOY
ELK GROVE
I’M GAY
PILOTS
BEI DEN GROSSEN
DAS SCHWARZE LOCH
CHICAGO, MON AMOUR
ZWISCHENSTOPP IN SYDNEY
GETEILTES GOLD
INTERNATIONALE BOTSCHAFTERIN
LACHEN UND WEINEN
ZURÜCK AN DIE WESTKÜSTE
EIN RING FÜR DIE WELTMEISTERIN
BADASS
RESPEKT
RIO DE JANEIRO
EIN KLEINER GRUSS AN KAEPERNICK
WARUM ICH NIEDERKNIE
WIEDERGEBURT
WELTFRAUENTAG
RAPINOE VS TRUMP
GEGENANGRIFFE
ZUSAMMEN IST MAN WENIGER ALLEIN
SCHON WIEDER WELTMEISTERIN
STARKE WORTE
IKONE
RÜCKKEHR NACH TACOMA
GALAABEND IN DER MAILÄNDER SCALA
NULL PUNKTE
BALLON D’OR
MEGANSTAR
ERFOLGE UND AUSZEICHNUNGEN
ABKÜRZUNGEN
DANKSAGUNG
DIE AUTOREN
BORN IN THE U.S.A.
Born down in a dead man’s town
The first kick I took was when I hit the ground
End up like a dog that’s been beat too much
‚Til you spend half your life just covering up
Born in the U.S.A
I was born in the U.S.A
I was born in the U.S.A
Born in the U.S.A
Born in the U.S.A., Bruce Springsteen, 1984
2. Juli 2011. 18 Uhr. Rhein-Neckar-Arena, Sinsheim. USA gegen Kolumbien, viertes Spiel der Frauenweltmeisterschaft. Zur Halbzeit steht es 1:0 für die Amerikanerinnen. In der 12. Minute hat Heather O’Reilly einen Patzer von Liana Salazar ausgenutzt und die Frauen in Weiß in Führung gebracht. Nach dem Vollspannschuss in den Winkel stellt sich die gesamte US-Mannschaft in einer Reihe vor der Tribüne auf und salutiert. Adressaten des militärischen Grußes sind 350 Soldaten und Offiziere aus der Kaserne „Coleman Barracks“ und deren Angehörige, die aus dem 50 Kilometer entfernten Mannheim angereist sind, um ihre Landsfrauen anzufeuern. Eine Geste der Dankbarkeit.
Zu Beginn der zweiten Halbzeit wird Megan Rapinoe, Trikotnummer 15, für Amy Rodriguez eingewechselt. Vier Minuten später bekommt die US-Amerikanerin einen Einwurf in der Hälfte der Kolumbianerinnen zugesprochen und schleudert den Ball weit ins Feld zu Lauren Cheney. Die Mittelfeldspielerin aus Indianapolis steht mit dem Rücken zum Tor und schüttelt mit einem schnellen Antritt ihre kolumbianische Bewacherin Kelis Peduzine ab. Cheney orientiert sich kurz, und als wäre der Spielzug einstudiert, bedient sie, ohne aufzuschauen, mit einem klugen Pass Rapinoe, die im Sprinttempo in den Strafraum durchgelaufen ist. Die platinblonde Spielerin lässt zwei Gegnerinnen aussteigen und setzt mit rechts zum Schuss an. Sandra Sepúlveda, Kolumbiens Nummer 1, steht zu weit vor dem Tor, um den harten Schuss halten zu können, der unter der Latte einschlägt. Mit ausgebreiteten Armen strebt „Pinoe“ – so nennen sie ihre Freunde – der Eckfahne entgegen, neben ihr Cheney und O’Reilly. Sie schnappt sich ein dort stehendes Außenmikrofon, klopft ein paar Mal dagegen, um zu sehen, ob es funktioniert, und singt dann aus voller Kehle: „ Born in the U.S.A“ . Lori Lindsey begleitet ihre Mannschaftskollegin auf der Luftgitarre.
Schon immer hat Megan ihre Tore gefeiert. Das tat sie bereits, als sie noch nicht in ausverkauften Stadien spielte und sich vor laufenden Kameras in Szene setzte. Damals, als ihr noch keine Mas-sen zusahen, sondern nur ihre Eltern, die am Spielfeldrand standen. Das Zelebrieren von Toren ist Ausdruck ihrer Liebe zum Fußball, ihrer Leidenschaft im Spiel und des Spaßes, den sie daran hat. Es ist Teil ihres fröhlichen Wesens – halb Rampensau, halb Clown – und gehört irgendwie dazu; so dauert das Tor länger an und Megan tritt in Verbindung mit den Zuschauern, sie unterhält sie und lässt sie am Spiel teilhaben. Eine schöne Art, einen Höhepunkt des Spiels zu würdigen und ihm gleichzeitig den ernsten, gar heiligen Charakter zu nehmen. Die junge Frau mit der 15 auf dem Rücken hat im Lauf ihrer Karriere eine Vielzahl Siegergesten erfunden. Einige davon, wie der angedeutete, abgeschossene Pfeil oder die Bocksprünge über ihre Mitspielerinnen, sind bei den Fans inzwischen Kult. Doch dieses Mal ist Megan Rapinoe noch weiter gegangen. Mit ihrer Interpretation des Springsteen-Songs präsentiert sie sich der Welt. Spontane Improvisation oder lang gereifter Plan? Natürlich war dieser Schachzug im Vorhinein und mit großer Sorgfalt vorbereitet.
Die Idee stammte von Lori Lindsey, eine von Megans Freundinnen, die sie 2006 in Los Angeles während eines Trainingslagers der Nationalmannschaft kennenlernte. Damals machten sich die beiden über die mit Plüsch bezogenen Mikrofone an der Seitenlinie lustig, die wie Hunde oder irgendwelche fantastischen Wesen aussehen, jene seltsamen Teile, die man eigentlich immer zuerst umnietet, ehe man eine Ecke schießt. Schon damals meinten die zwei Frauen, es wäre doch lustig, eines Tages etwas in diese Außenmikros, die eigentlich zum Einfangen der Stimmung im Stadion bestimmt sind, hineinzurufen oder -zusingen. Und das taten sie. Das Timing hätte nicht besser sein können: Es ist zwei Tage vor dem 4. Juli, an dem Amerika seinen Unabhängigkeitstag feiert, den 235. Geburtstag der Vereinigten Staaten. Es ist Megans erste Weltmeisterschaft und ihr erstes (und auch letztes) Tor in diesem Turnier.
Ein Tor, das allerdings weniger schwer wiegt, als Megans berühmte Hereingabe in der 122. Minute des WM-Viertelfinals gegen Brasilien in Dresden: Die Südamerikanerinnen führen 2:1 dank Marta, dem Star aus Rio de Janeiro. Cristiane, die Nummer 11 in Gelb, hält den Ball, weit weg vom eigenen Tor. Der Schiedsrichter kann jeden Augenblick abpfeifen und dem Abenteuer der USMannschaft so ein Ende bereiten, doch da gelingt es Ali Krieger, der gegnerischen Stürmerin den Ball abzunehmen. Krieger spielt zu Carli Lloyd, die Richtung Anstoßkreis läuft und nach links zu Megan Rapinoe passt. Die in der 55. Minute für Cheney eingewechselte Kalifornierin führt den Ball am Fuß, hebt den Kopf und schaut in die Hälfte der Brasilianerinnen. Sie sieht nur Gelb und das grüne Trikot der Torhüterin. Von dort aus, wo sie sich befindet, kann sie Abby Wambach unmöglich sehen. Aber Megan weiß, dass die Stürmerin mit der Nummer 20 irgendwo dort wartet und auf den Ball lauert. Also liefert Megan ihr mit links eine Vorlage aus über dreißig Meter Entfernung. Der Ball fliegt in die Richtung der Gegnerinnen, aber Wambach ist schneller. Sie hat das Missverständnis zwischen der brasilianischen Torhüterin und einer Verteidigerin antizipiert und erzielt per Kopf das 2:2! Eines der spektakulärsten und berühmtesten Tore in der Geschichte des amerikanischen Frauenfuß-balls, wodurch auch der Pass, der als Vorlage zu diesem Traumtor dient, entscheidend und unvergessen ist. Ein zentraler, magischer Moment, der das Schicksal, die Mentalität und die Geschichte der amerikanischen Nationalmannschaft für immer verändert. Im Elfmeterschießen besiegen die Amerikanerinnen die Brasilianerinnen mit 5:3. Im Halbfinale fegen sie Frankreich mit 3:1 vom Platz (mit zwei Torvorlagen von Megan) und stehen somit zum dritten Mal im Finale einer WM. Doch gegen Japan, das nur vier Monate zuvor von einem Tsunami heimgesucht und verwüstet worden ist, erlebt die amerikanische Frauennationalmannschaft eine bittere Enttäuschung: Die USA verlieren das Finale im Elfmeterschießen und reisen traurig aus Deutschland ab.
Читать дальше