Sie erleben, wie ein ermutigendes Nachbarschaftsverhältnis oder eine gute Freundschaft auf einmal schwierig wird. Es entstehen Missverständnisse. Das Verhalten des anderen irritiert und verletzt Sie. Lieblose Worte sind gefallen, und Sie fragen sich auf einmal, was aus dem guten Miteinander geworden ist. „Alles ist ganz anders hier!“
Sie haben als Christ Gottes Nähe auf beglückende Weise erfahren. Er hat Ihre Gebete erhört, hat sich Ihnen gezeigt, zu Ihnen gesprochen. Nun auf einmal lässt er Umstände und Schwierigkeiten zu, die Sie irritieren. Sie beten, vertrauen und rechnen mit Wundern – doch es geschieht nichts. Gott hüllt sich in Schweigen. Scheint weit weg zu sein. Ist das derselbe Gott, dem Sie einmal von Herzen vertrauten? „Alles ist ganz anders hier!“
Sie haben eine neue Arbeitsstelle angetreten und stellen auf einmal fest, dass sie Aufgaben, Verantwortungen und Belastungen mit sich bringt, an die Sie im Vorfeld nicht dachten. Manches ist besser als früher; anderes schwieriger. Sie ahnten nicht, wie schnell Sie an Ihre Grenzen stoßen und wie viel Kraft Sie dieser Job kosten würde. „Alles ist ganz anders hier!“
Sie sind Ihrer Kirchengemeinde vor einiger Zeit mit Überzeugung beigetreten. Sie waren beeindruckt von der freundlichen, wohlwollenden Atmosphäre, von den gehaltvollen Predigten und der theologisch stimmigen Ausrichtung. Nun auf einmal sehen Sie, was hinter den Kulissen läuft. Mitarbeiter brennen aus. Schwelende Konflikte. Frommer Klatsch. Sie reiben sich die Augen und sagen sich verwundert: „Alles ist ganz anders hier!“
„Alles ist ganz anders hier“ beschreibt jene Erfahrung, die sich bei uns einstellt, wenn die Realität unseren Vorstellungen und Erwartungen zuwiderläuft und uns verunsichert zurücklässt. Sind Lebensumstände herausfordernder als vermutet, stehen wir vor einem Schlüsselmoment. Gott selbst mutet uns diese Situation zu. Er stellt uns vor eine Weggabelung, an der wir innehalten müssen. Selten ist es richtig, sich an diesem Punkt leise rückwärts zur Tür zu bewegen, durch die man eingetreten ist, und die Flucht zu ergreifen. In der Regel wäre dies eine unreife Reaktion. Vielmehr geht es darum, sich sorgfältig Möglichkeiten zu erschließen, wie man mit Gottes Hilfe seinen Weg weitergehen kann. Einen Weg, auf dem die Zuversicht zunimmt, nicht die Verunsicherung. Auf dem die Hoffnung auf Gutes wächst, statt die Furcht vor der Überforderung. Auf dem man erfährt, dass das Fremde einen nicht überwältigt, weil man es zusammen mit Gott bewältigen kann, der sich inmitten dieser Umstände und durch sie hindurch finden lässt.
Meine oben beschriebenen Erfahrungen als frischgebackener Vater und als Leiter haben mir einige meiner kostbarsten Lebenslektionen beschert. Die Essenz daraus lässt sich so beschreiben: Ich lernte mit Gottes Hilfe, Verantwortung zu übernehmen.
• Ich lernte, gute Entscheidungen zu treffen.
• Ich lernte, Prioritäten zu setzen.
• Ich lernte, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden.
• Ich lernte, mit meinen Emotionen besser umzugehen.
• Ich lernte, mir Denk- und Verhaltensweisen anzueignen, die mir helfen, meinen Alltag zu bewältigen und Beziehungen auf konstruktive Weise zu gestalten.
• Kurz: Ich lernte, mich selbst zu führen.
Ich bin heute alles andere als ein perfekter Vater. Meine drei Töchter können Ihnen das bestätigen. Aber ich habe einen Weg gefunden, mich in dieser Rolle zurechtzufinden. Ich habe gelernt, der Zeit mit meiner Familie die nötige Priorität einzuräumen und unser Miteinander ermutigend zu gestalten. „Alles ist ganz anders hier!“ ist in diesem Bereich nicht länger mein Lebensgefühl. Gott hat mir geholfen, in dieser Aufgabe anzukommen, mit ihr vertraut zu werden. Die Herausforderungen haben nicht abgenommen. Aber mit meinen Kindern sind auch ich und meine Frau gewachsen. Wir haben Neues gelernt. Haben Sicherheit gewonnen. Und gehen gelassener mit unseren eigenen Fehlern um.
Ich bin auch alles andere als ein perfekter Leiter geworden. Aber ich habe einen Weg gefunden, mich in Führungsaufgaben zurechtzufinden. Ich habe gelernt, Mitarbeitende besser zu führen und mit Kritik konstruktiver umzugehen. Ich habe gelernt, Konfliktgespräche zu führen und nicht alles so tierisch ernst und persönlich zu nehmen. Ich habe gelernt, wie man das Vertrauen der Menschen, die man führt, gewinnen kann. Vor allem aber habe ich gelernt, als Leiter Gott mehr zu vertrauen. Meine Ambitionen und Vorstellungen loszulassen. Meine größten Gegner zu segnen. Meine Jahre als Pastor und Leiter gehören zu den wertvollsten meines Lebens. Gott hat die Gemeinde und mich selbst weit über das hinaus gesegnet, was ich für möglich gehalten hätte.
In den Bereichen unseres Lebens, in denen wir um einen guten Weg ringen, ist genau das unsere Chance und Gottes Angebot: Er lädt uns ein, zu lernen und zu wachsen. Es sind kostbare Gelegenheiten, um eine der wichtigsten Lebenskompetenzen zu erlernen, die es gibt: die Kunst, sich selbst zu führen.
Bei den meisten Schwierigkeiten, mit denen wir konfrontiert sind, sind nicht die Umstände oder andere Menschen das Hauptproblem. Der Knoten sitzt in uns selbst. Problematisch kann sein:
• mit welcher Perspektive wir die Dinge betrachten,
• wie wir andere Menschen sehen,
• wie wir Gott sehen,
• wie wir uns selbst sehen.
Hier anzusetzen, darum geht es in der Kunst der Selbstführung. Das Schicksal der eingangs beschriebenen Pioniere im amerikanischen Westen hilft uns an dieser Stelle. Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen, die der Frage nachgehen, weshalb für einige unter ihnen das Leben auf dem neuen Kontinent pures Glück bedeutete, während es für andere zur größten Enttäuschung ihres Lebens wurde. Als Hauptgrund nennen Forscher die „innere Geschmeidigkeit oder Anpassungsfähigkeit“, mit der manche Menschen sich den unerwartet anderen Umständen stellten. 2Das heißt: Dieselben Umstände wurden von verschiedenen Personen völlig unterschiedlich bewertet. Nicht die Umstände an sich stellten das Haupthindernis dar. Die größte Hürde lag in der Unwilligkeit und Unfähigkeit mancher Auswanderer, sich der unerwarteten Situation zu stellen und Wege zu suchen, sie zu bewältigen. Ihnen fehlte die Fähigkeit, sich selbst zu führen.
Sich selbst führen – eine Königsdisziplin
Ich halte die Fähigkeit, sich selbst zu führen, für eine Kernkompetenz reifer Persönlichkeiten und erst recht reifer Christen. Ohne sie ist es unmöglich, gute Beziehungen aufzubauen, Konflikte konstruktiv zu lösen, mit Belastung und Stress umzugehen. Ohne Selbstführung scheitert auch jeder Versuch, andere Menschen auf gute Weise zu begleiten und zu führen.
Umso erstaunlicher, dass verhältnismäßig wenige Menschen sich mit diesem Thema auseinandersetzen. Manche, die es tun, geben bald wieder auf, weil sie falsche Vorstellungen haben. Entweder halten sie „sich selbst führen“ für eine ungute Beschäftigung mit sich selbst oder sie verstehen es als mühsamen Kraftakt für besonders Willensstarke, Selbstdisziplinierte und andere Kontrollfreaks. Es gibt an dieser Stelle nicht nur Gleichgültigkeit, sondern auch viele Missverständnisse.
Peter Drucker, einer der großen Managementvordenker des letzten Jahrhunderts, wiederholte immer wieder: „Die meisten Führungskräfte werden sich in ihrem ganzen Leben nicht bewusst, dass sie nur eine Person zu führen haben, nämlich sich selbst.“ 3
Diese Worte stammen nicht von einem Rosenduft versprühenden Esoteriker, sondern von einem Mann, der wesentlich geprägt hat, was wir heute unter guter Führungsarbeit in Politik, Gesellschaft und Kirchen verstehen. Ich bin davon überzeugt, dass man Druckers Aussage auf alle großen Felder unseres Lebens anwenden kann und dass sie nicht nur für Leitende gilt. In allen wichtigen Bereichen und Aufgaben unseres Lebens spielt die Fähigkeit, sich selbst zu führen, eine Schlüsselrolle.
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