Godeffroy drückt Kolber an sich und schiebt ihm dabei verschwörerisch einen kleinen Umschlag zu.
Eine Stunde und zwanzig Minuten nach dem Ablegen der Emily Godeffroy von den Landungsbrücken im Hamburger Hafen klettert Johan Cesar Godeffroy rückwärts, mit dem Gesicht zur Bordwand, Sprosse für Sprosse, ein Fallreep hinunter, ohne in die Tiefe zu sehen, denn seit seiner Kindheit leidet er an Höhenangst. Unter ihm dümpelt ein kleines Beiboot an der Backbordseite des großen Frachtseglers.
Das Signalhorn der Emily Godeffroy ertönt zum Abschied des Schiffseigners dreimal hintereinander so kräftig, dass die Fensterscheiben in den Häusern am Blankeneser Süllberg vibrieren. Zwei muskulöse Matrosen legen sich mächtig in die Riemen und rudern Godeffroy zügig an Land. Die Reedereifahne mit dem goldenen Falken flattert im Fahrtwind.
Mit den Schuhen in der Hand und hochgekrempelter Anzughose watet Johan Cesar Godeffroy die letzten Meter durch flaches Wasser an Land. Er bleibt noch eine Weile am sandigen Elbufer stehen und winkt seinem Viermaster nach, ein stetiger kleiner Wind bläht die wenigen gesetzten Segel und treibt mit dem ablaufenden Wasser der Elbe die Emily Godeffroy zügig in Richtung Nordsee voran. Godeffroy weiß, dass er das Schicksal seines bald zweihundert Jahre alten Familienunternehmens in die Hände der beiden Männer gelegt hat, deren Silhouetten er schon bald nicht mehr erkennen kann.
An der Uferstraße wartet ein Zweispänner. Die Kutsche bringt Godeffroy zum Süllberg hinauf und weiter zur Familienvilla, deren großer Park zur Elbe hinausgeht. Vor der weißen Fassade weht eine große Fahne mit dem Falkenwappen an einem haushohen Mast, wie immer, wenn ein Schiff der Handelsflotte von Godeffroy & Sohn vorüberfährt.
»Nun denn«, sagt Theobald Kolber an Bord der Emily Godeffroy , »jetzt sind wir also auf uns allein gestellt, junger Mann.« Er klopft Sebastian Kleine so kräftig auf die Schulter, dass dessen Oberkörper gegen die Reling gedrückt wird. »Auf gute Zusammenarbeit, mein Freund!«
Missionsschwester Anna verabschiedet sich. Sie sagt, es habe sie gefreut. Sie werde die Herren ja bald wiedersehen, wolle sich nun aber um ihr Reisegepäck kümmern und sich in ihrer kleinen Kabine ein wenig einrichten.
Sebastian Kleine sieht ihr lange nach, als sie auf den im sanften Rhythmus des Elbstromes leicht schwankenden Deckplanken mit kleinen Hüftschwüngen und wippendem, wadenlangem Rock zum Vorderdeck geht, vorbei an Gruppen von Passagieren und an geschäftigen Seeleuten, die ihr ebenfalls länger nachblicken, als es ihre Arbeit eigentlich erlaubt.
»Da hat uns der liebe Herrgott aber eine ausgesprochen hübsche Prüfung auferlegt«, sagt Theobald Kolber.
»Warum hat sich so eine junge Frau wohl der Frömmigkeit und der Keuschheit verschrieben – was da wohl in ihrem Leben passiert sein mag?«, fragt Sebastian Kleine.
»Das mit der Keuschheit nimmt man in der evangelisch-lutherischen Kirche nicht so streng wie bei katholischen Betschwestern und Bettelmönchen«, sagt Kolber. Bekanntlich dürften die Pastoren und Missionare der Glaubensrichtung Martin Luthers sogar heiraten.
»Wir können sie ja bei Gelegenheit selber fragen, schließlich sollen wir uns doch um sie kümmern.«
Gemeinsam beobachten die beiden Männer den Steuermann, der das mannsgroße Ruder auf Kurs hält. An Backbord und Steuerbord breiten sich die flachen Ufer von Schleswig-Holstein und Niedersachen unter dem Horizont aus. In Höhe der Mündung des Flusses Oste und kurz vor dem Ort Otterndorf erreiche der Wind bereits eine Stärke von vier bis fünf, in Böen sechs, mit zunehmender Tendenz. In einer Stunde werde man Cuxhaven, die Elbmündung und die offene Nordsee erreichen, erklärt der Rudergänger, dann könne die Emily Godeffroy endlich auch die Großsegel setzen. An Helgoland vorbei gehe es zum englischen Kanal. In zwei, drei Tagen werde man im walisischen Hafen Cardiff noch tausend Tonnen Kohle für eine Bunkerstation in der indonesischen Hauptstadt Batavia in den Laderaum füllen, bevor es dann auf den Atlantik hinaus nach Süden gehe.
Die »Emily«, wie die Besatzung den Frachtsegler liebevoll nenne, sei vor vier Jahren in Bremerhaven vom Stapel gelaufen. Sie sei vermutlich einer der letzten Neubauten ihrer Art, denn die Zukunft gehöre den Dampfern. Doch immerhin habe man zwischen dem Kap der Guten Hoffnung und der australischen Küste im letzten Frühjahr bei günstigem Wind ein Etmal von 288 Seemeilen herausgefahren.
Ein Etmal?
Das sei die Strecke, die ein Schiff von 12 Uhr mittags an gerechnet in 24 Stunden zurücklege. Auf dieser Reise wolle man den eigenen Rekord brechen und mehr als 300 Seemeilen schaffen. Bei günstigen Winden könne man Batavia in sieben bis acht Wochen erreichen und zwei Wochen später voraussichtlich am Ziel der Reise Anker werfen: in der Blanchebai vor der Küste von Neupommern.
Er freue sich schon auf das Empfangsfest bei Queen Emma, sagt der Seemann. Dabei zeichnet er mit beiden Händen eine schwungvolle Frauenfigur in die Seeluft: so wohlgeformte, anschmiegsame Weiber würden dort warten, bildhübsche Samoanerinnen, die Queen Emma von ihrer Heimatinsel nach Neuguinea geholt habe. Wie immer werde es üppiges Essen und reichlich zu trinken geben und Musik und Tanz bis zum Anbruch des nächsten Tages. Der Mann lacht breit.
Theobald Kolber klopft dem Erzähler zustimmend auf die Schulter und sagt zu Sebastian Kleine: »Das ist kein Seemannslatein, mein Junge, das kann ich als ehrbarer Hamburger Kaufmann bestätigen ...« Und dabei bläst er Tabakswolken, die nach Honig und Trockenpflaumen riechen, in den blanken norddeutschen Himmel.
Tagebuch Sebastian Kleine, Sonnabend, 12. März 1898
Manchmal ist mir, als würden wir unter der Meeresoberfläche in die Südsee reisen. Seit Tagen und Nächten rast und schäumt glasklares, blaues Wasser am Bullauge meiner Kabine vorüber, deren Boden sich gleichzeitig wie bei einem nicht enden wollenden Beben hebt und senkt und dann wieder oft stundenlang in einer zitternden, schrägen Seitenlage verharrt. Ein gleichförmiger Wind bläst in die voll gesetzten Segel und treibt unser Schiff mit einer Geschwindigkeit von zehn bis zwölf Knoten voran.
Kapitän Tietjen ist begeistert. Er meint, bei solcher Reisegeschwindigkeit können wir gut und gerne eine Woche früher als geplant unser Ziel erreichen.
Der britische Kanal und die Bucht von Biskaya liegen bereits hinter uns. Den gewaltigen Orkan dort habe ich gut ertragen. Erst als wir in wärmere Gefilde und in ruhigere Gewässer kamen, bin ich doch noch seekrank geworden. Die Ausläufer des nun Hunderte von Kilometern entfernten Sturmes mit ihren meterhohen, sanften Dünungen haben mir den Magen umgedreht. Zum Amüsement der alten Seeleute hing ich stundenlang über der Reling und würgte meinen Mageninhalt bis zum letzten bitteren Tropfen heraus.
Vorgestern Abend entdeckte ich nur ein paar Meter von mir entfernt an Bord unter dem Großmast stehend die Frau, nach der ich lange Zeit vergebens Ausschau gehalten hatte.
Gern hätte ich Missionsschwester Anna unter angenehmeren Umständen wiedergetroffen, denn ihr ging es ganz offensichtlich noch schlechter als mir: Ihr Gesicht war grünlich blass und ihre fröhlichen Augen hatten jeglichen Glanz verloren. Offenbar war es ihr unangenehm, dass ich sie in diesem Zustand sah. Wir lächelten uns aus einiger Entfernung wie Leidensgenossen zu. Sie winkte mit einer kleinen Handbewegung und ging wieder mit unsicheren Schritten die steile Treppe zu den Kajüten hinunter. Danach war mir, als hätte ich eine Erscheinung gehabt und mir die Begegnung nur eingebildet.
Schiffszwieback und Wasser hielten mich in dieser Phase der Reise mühsam am Leben. Tagelang lag ich in meiner Koje, sah zu, wie das Wasser draußen vor dem Bullauge vorbeirauschte, und sann über mein bisheriges Leben und meine Zukunft nach. Und über meine Gespräche mit Theobald Kolber.
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