Hanna Lützen
Das Buch der Wunder
Aus dem Dänischen
von Christel Hildebrandt
Lindhardt & Ringhof
Wir schreiben das Jahr 1178, der Mönch Herbert aus dem Stammhaus der Zisterzienser, dem Kloster in Clairvaux, beginnt sein Liber Miraculorum , das Buch der Wunder, zu schreiben. Der ehrwürdige Erzbischof von Lund, Eskil, der seinen Lebensabend in Clairvaux verbringt, trägt einen Teil zu Herberts Werk bei. Eskil, der angesehene Gründer zisterziensischer Häuser in Skandinavien, kann von vielen sonderbaren Geschehnissen in seinen Klöstern berichten. Vor allem die dänischen Häuser, Tvis, Køgum, Holme, Vitskøl, Øm, Sorø und nicht zuletzt Esrom, die erste dänische Zisterziensergründung, erwachen vor Herberts innerem Blick zu neuem Leben. Herberts Feder und Eskils Erinnerung schaffen gemeinsam die phantastischsten Beschreibungen dessen, was die Clairvauxmönche auf ihren Posten in den rauen, leeren und fremden Gegenden sahen, in denen die Menschen erst vor einem Jahrhundert davon abließen, den schrecklichen Abgott Svantevit anzubeten.
Eskil ist zu seinen erschütterndsten und furchterregendsten Erinnerungen vorgedrungen. Jetzt will er Herbert vom Kloster Esrom berichten. Sein ›eigenes‹ Kloster, das 1151 auf dem Boden errichtet wurde, den der dänische König Erik Lam durch königliches Privileg an Eskil übertragen ließ. Hierher reisten die Clairvauxmönche, um zu Eskils Männern zu stoßen und an dem Wiederaufbau eines verfallenen Benediktinerklosters mitzuwirken, welches etwas abseits von den Siedlungen und von befahrbaren Wegen lag. Die französischen Mönche wanderten durch Europa gen Norden und spürten, wie das Klima herber und die Menschen rauer wurden, je weiter die Reise sie führte. Sie erschauerten und dachten voller Sehnsucht an ihr Stammhaus in Clairvaux und baten Gott flehentlich um Kraft, damit sie ihre Arbeit bei diesem primitiven, schmutzigen Menschenschlag verrichten konnten, dessen Stimmen wie das Belfern wilder Tiere klang. Aber Eskil nahm die missmutigen Brüder freudig auf und nach kurzer Zeit stand ein fertiges Haus da mit frischen Rodungen für den Kräutergarten sowie Gräben, die bald zu einem neuen Brunnen und Bewässerungssystemen werden sollten. Die Lage im nördlichen Teil der Insel Seeland ermöglichte es Eskil, dem Ort weiter gewogen zu sein. Die Entfernung von Lund nach Esrom war unbedeutend und so konnte der Erzbischof sich jederzeit über den Stand seiner Stiftung unterrichten lassen. Häufig kam er den Zisterziensern zu Hilfe, wenn sich Probleme auftaten. Der Orden der Zisterzienser stand für Eskil an erster Stelle und jedes Mal, wenn er zu Besuch kam, nahm er sich die Zeit, die Annalen des Klosters durchzulesen.
An einem winterdunklen, bitterkalten Dezemberabend sitzen Herbert und Eskil in Herberts Arbeitsraum beisammen. Die kleine Zelle ist ins Dunkel getaucht, nur der milde Schein der Öllampen bildet einen beschützenden Kreis um die beiden alten, weiß gekleideten Brüder am Holzpult. Jetzt will Eskil mit seiner Erzählung vom Wunder im Kloster Esrom beginnen. Es ist eine Geschichte über die Taten des Teufels wie auch über das Wunder, das sich durch Fleiß, Tüchtigkeit und den Glauben der Menschen vollbringen lässt. Die Geschichte von Christa.
An einem grauen, regenschweren Frühlingstag im Jahre 1154 ist eine weiß gekleidete Gestalt in der zartgrünen Landschaft ums Kloster Esrom zu erkennen. Die Mönche entdecken sie unten im Tal, noch weit vom Haus entfernt. Sie schreitet schnell aus, obwohl sie offensichtlich einige Bündel zu tragen hat. Es ist ein Bruder ihres Ordens. Nur die Zisterzienser tragen ungefärbte Kleidung und sind deshalb auch auf große Entfernung gut zu erkennen. Die Brüder lächeln sich zu; das kann niemand anders als Bruder Franz von Cîteaux sein, der neue Heilkundige, der die Planung und Aufsicht über den Kräutergarten wie auch den Aufbau der zukünftigen Apotheke des Klosters übernehmen soll. Seine Ankunft wurde voller Spannung seit mehr als einem Monat erwartet. Inzwischen ist es fast zu spät für die Aussaat vieler Kräuter, aber Franz’ Ankunft weckt dennoch Optimismus und Freude unter den Pionierbrüdern, die wie die Pferde geackert haben, um einen Rahmen für ihr neues Leben unter den Fremden zu schaffen. Nach diesem ersten Jahr ist es ihnen geglückt, ein Haus zu bauen, dessen sie sich sowohl Gott als auch den Menschen gegenüber nicht zu schämen brauchen. Hier können sie ihre Arbeiten Gott zur Ehre und den Armen, Kranken und Notleidenden zum Nutzen verrichten.
Der Abt William, das kraftvolle Oberhaupt des Klosters, tritt hinaus, um den Neuen am Tor zu empfangen. Er ist ein großer, breitschultriger Mann, dessen stahlgraue Tonsur als Einziges auf sein fortgeschrittenes Alter hinweist. Sein Adlerprofil, die schmalen Lippen und die durchdringenden blauen Augen verleihen ihm einen harten, unerbittlichen Ausdruck, was ihm bereits in vielen Situationen von Nutzen gewesen ist. Aber Abt William wäre in dem Orden nicht weit gekommen, wenn er nicht außerdem die große Beweglichkeit und das Mitgefühl besessen hätte, die das geistige Leben und die Lehre der Zisterzienser auszeichnen.
Eine Gruppe von Mönchen folgt ihrem Abt und stellt sich hinter ihm unter dem Torbogen auf. Der junge Bruder Erland, dessen Geschick bei Ingenieursarbeiten ihn zum Leiter der Konstruktion der Wasserversorgung gemacht hat, steht trippelnd da und späht mit gerunzelter Stirn hinaus. Nach einer Weile, Franz ist nunmehr nicht mehr weit, stößt er seinen Bruder Martin aus Metz an, der Schwierigkeiten hat, die Tusche von seinen Händen zu wischen. Martin ist der geschickte Illuminator und Buchbinder des Klosters, dessen Talent sich nicht so oft entfalten darf, wie er es selbst gerne hätte, denn die praktischen Arbeiten kosten die bis jetzt noch wenigen Mönche immer noch viel Zeit. Aber heute ist es ihm gelungen, ein paar Stunden in der Schreibstube gut zu nutzen. Bruder Erlands Fingerzeig lässt ihn aufblicken.
»Sieh nur, er trägt etwas, es sieht aus wie ein Wickelkind . . .« Bruder Martin blinzelt mit den Augen, die sich nach der Schreibarbeit noch nicht an das helle Licht draußen und auch nicht daran gewöhnt haben, bis zum Horizont hinauszublicken. Er fragt Bruder Severin, den Schlachtermeister und Chorleiter, ob er das Gleiche sehe wie Erland. »Doch, ja, das, was Franz so vorsichtig im Arm trägt, sieht aus wie ein lebendiges Wesen.«
Jetzt sind sich alle sicher, es zu erkennen. Abt William runzelt die Stirn. Er wünscht keine unvorhergesehenen Probleme. Wenn das ein Säugling ist, wie sollen sie sich dann um ihn kümmern? Das Kloster ist noch nicht einmal vollkommen ausgebaut. Die Zähigkeit der Mönche hat sie den Winter überstehen lassen, aber das Wetter ist immer noch feucht und rau. Sie alle spüren, wie die Kälte in ihnen hochkriecht, des Nachts und während der Messe, wenn sie in Gebet und Lobgesahg vertieft dasitzen. Wie soll ein Kind das überstehen! William sieht ebenso deutlich wie seine Brüder, dass Franz wirklich mit einem Säugling zu ihnen kommt.
Das kann nur Probleme bringen! Es gibt keine Frauen im Kloster und von keinem der Brüder ist zu erwarten, dass er weiß, was zu tun ist! Hier nützen guter Wille und fromme Gedanken ohne den praktischen Sinn für Kinderpflege nicht viel! Vielleicht kann Franz selbst . . .
Der Herankommende ist nur noch wenige Meter entfernt und unter Anstrengung hebt er eine Hand zum Gruß. Das Bündel mit seinen Habseligkeiten fällt zu Boden, während er vorsichtig seine lebende Last von einem Arm auf den anderen schiebt. Sie alle hören das leise Weinen, entscheiden sich aber aus Hilflosigkeit, es lieber zu ignorieren. Bruder Franz muss erst einmal berichten.
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