Franz senkte den Kopf und schwieg einen Augenblick. Es war William bewusst, dass Franz noch mehr sagen wollte, und das hätte einen anderen, sehr viel ernsteren Charakter. Und ganz richtig: Franz räusperte sich und erzählte in allen Details von seinem Traum und seiner sicheren Überzeugung, dass Christa gekommen war, um in das Leben der Mönche ein Zeichen zu setzen. Was das bedeuten würde, konnte man noch nicht sagen. Das konnte nur die Zeit zeigen. Die beiden Mönche wanderten Seite an Seite zurück zu Franz’ Raum im Südflügel, wo das Kind schlief.
Es gab nur zwölf Brüder in dem neuen Kloster. Zwölf Mönche und zwei Laienbrüder, einen Alten, der im Stall aushalf, und einen jungen Mann, dessen verwirrter Sinn den Mönchen immer wieder Sorgen machte. Während der alte Uffe still und friedlich seine Arbeit bei den Tieren versah und mit den Mönchen zur Messe ging, war Jens, der sicher nicht mehr als sechzehn Jahre alt war, auf ruheloser Wanderung im Gelände des Klosters oder er war damit beschäftigt, Beschwörungen aufzusagen gegen die unzähligen Flüche, die ihn seiner Meinung nach getroffen hatten. Die Mönche waren nicht abgeneigt, ihm Recht zu geben. Wenn er so hinter dem Misthaufen saß mit wackelndem Kopf, starren Augen und ständig sich bewegenden Lippen, ohne dass ein Laut von ihnen zu vernehmen war, musste jeder, der ihn sah, ein stilles Gebet für seine Errettung sprechen. Aber er wurde nicht weggeschickt. Niemand außer dem Teufel selbst sollte aus den schützenden Mauern des Klosters verwiesen werden, auch kein Wesen, das eine Quelle ständiger Unruhe bildete. Mit Gottes Hilfe würde er sich schon zurechtfinden.
Die beiden Laienbrüder lebten im Kloster, seit es gegründet worden war. Aus der Entfernung hatten sie die Bauarbeiten verfolgt, die schnell ein beeindruckendes Backsteingebäude auf den Resten des alten Benediktinerhofs zum Vorschein kommen ließen. Eskils Leute hatten Arbeitskräfte unter den Bauern geworben und die Brüder selbst waren sich auch für die schwere Arbeit nicht zu schade. Sie waren aus dem sicheren Stammhaus in Clairvaux hergekommen, aber sie dachten nicht daran, sich von den harten Herausforderungen brechen zu lassen. Bernhard hatte sie vor ihrer Abreise gesegnet und sie alle wussten, dass die Reise nach Dänemark ihre Lebensaufgabe war. Hier würden sie bleiben und in der Fremde die Erde bestellen für die Zukunft des Ordens und erst zurückkehren, wenn sie so alt waren, dass sie nach Clairvaux heimgerufen wurden. Hier würden sie arbeiten und die aufnehmen, die Zuflucht vor der Welt suchten, und sie würden mit aller Macht versuchen, die eigenen Vorurteile gegen das Land und seine Bewohner abzulegen.
Eskil hatte dafür gesorgt, dass die großen Weideflächen und saftigen Felder dem Kloster zugesprochen wurden. Sein Wohlwollen für die Zisterzienser war ein Wunder, das vielleicht, vielleicht aber auch nicht Bernhard zu verdanken war. Jedenfalls gab es keinen Zweifel, dass Bernhards Größe und wohl bekannte Frömmigkeit Eskils Neugier geweckt hatte. Der mächtige Erzbischof hatte Bernhard in Clairvaux aufgesucht und sich von dessen geistiger Kraft und dem Glanz, der den alten Mönch umgab, verzaubern lassen. Seither waren die Zisterzienser Eskils besondere Schützlinge. Bernhard war bereits zu Lebzeiten eine Sagengestalt geworden, die ihre Stärke auf die Mitglieder der Zisterziensergemeinschaft übertragen konnte – als bescheidenes Vorbild für die Lebensweise der Zisterzienser. Bernhard war Eskils Nächster geworden! Vielleicht waren die Harmonie dieser Verbindung und die gegenseitige Achtung gerade ein Resultat des Gegensatzes zwischen Bernhards weltfremder Frömmigkeit und Eskils erdnahem politischen Geschick, das seine Amtsführung auszeichnete. Vielleicht konnte Eskils raue Natur nur von etwas absolut Reinem und Fehlerfreiem besänftigt werden. Aber wie dem auch war, die gezielte Vorgehensweise und die praktischen Fähigkeiten des Erzbischofs kamen den Zisterziensern zu Gute – ja, sie bildeten sogar hier im Norden deren Existenzgrundlage. Ohne Eskil wären die Mönche nicht so weit gekommen. Jedes Hindernis wurde durch Eskils Tatkraft und seinen Einfluss aus dem Weg geräumt. Weder lokale Streitereien über die Flurgrenzen noch königliche Habsucht konnten den Zisterziensern auch nur eine Hand voll Erde entreißen. Und Eskil sorgte dafür, dass das, was einmal ihres geworden war, auch ihres blieb. Eine Ausdehnung ihres Eigentums war die einzige Veränderung, die er zuließ oder sogar förderte, mit dem üblich gewordenen Tauschhandel von Gold, Land oder Tieren gegen das Angebot der Kirche, die ewige Seligkeit zu erlangen.
Die Mönche konnten also in Ruhe die Welt ihren Gang gehen lassen, während sie ihren Aufgaben nachkamen. Sie waren von frühmorgens bis spätabends beschäftigt. Jeder Bruder hatte tief in seinem Inneren die Gewissheit, dass seine Fähigkeiten und sein Fleiß etwas schufen, das Gott ehrte. Nichts war dafür zu gering, nichts zu groß. Von der einfachsten handwerklichen Tätigkeit bis zu den weitreichendsten Ingenieursarbeiten, von der schönsten Handschrift bis zu den schmutzigsten Arbeiten. Alles wurde gründlich und mit Sorgfalt ausgeführt. Alles war ein offensichtliches Bekenntnis ihres Glaubens, genau wie das Gebet das innere Bekenntnis ihrer vollen Hingabe war.
Bruder Franz war als Letzter hinzugekommen und mit seinen Kenntnissen von heilenden Kräutern und seinen Rezepten war der Fächer der Fachleute im Kloster Esrom vollständig. Es gab geübte Baumeister, tüchtige Schreiber, verlässliche Stallarbeiter, einen Koch und jetzt auch noch einen Heilkundigen, der es außerdem verstand, einen Kräutergarten anzulegen, der sie mit Kräutern versorgen konnte und mit Pflanzen für heilende Tropfen und andere Medizin. Gott war dem gnädig, der sich selbst zu helfen wusste. Abt William war mit seiner Schar zufrieden. Weitere Brüder waren willkommen, aber wie es im Augenblick aussah, gab es reichlich Sachkunde im Haus. Und obendrein ein Kind!
Der alte Bruder Sigurd hatte alle notwendigen Vorbereitungen für die Taufe getroffen. Er hatte ein langes Gespräch mit Abt William geführt, der ihm seinen Beschluss mitgeteilt hatte, das Kind im Kloster zu behalten, auch wenn damit ganz offensichtlich praktische Probleme verbunden waren. William sah müde aus. Er lehnte sich auf seinem unbequemen Holzstuhl zurück und seufzte tief – etwas, das er sich selten gegenüber anderen gestattete. Sigurd hatte schon oft stundenlange Gespräche mit dem Bruder geführt und wusste sofort, dass ihn etwas quälte.
»Bruder Franz hat mir von einem Traum erzählt, den er, unmittelbar bevor er das Kind fand, geträumt hat.«
William schwieg einen Augenblick und Sigurd nickte ihm aufmunternd zu.
Dann fuhr er fort: »Ein weißes Lamm läuft von seiner Herde davon und opfert sich einem hungrigen Wanderer. Dafür schickt Gott einen Engel zur Erde! Franz sieht nur das Geschenk des Himmels, aber ich sehe auch eine verlorene Seele, die geopfert werden muss! Das macht mir Kummer . . . Ist das Kind dieses Lamm oder ist es der Engel? Ich glaube, Ersteres. Anderes anzunehmen wäre zu vermessen. Selbst Franz neigt inzwischen zu der Meinung, dass es das Lamm ist, das unserem Orden geschenkt wurde, damit wir Gottes Wort durch das Kind weitergeben können! Aber was ist mit dem hungrigen Wanderer – die Zisterzienser sind keine gierigen Seelenhändler. Wir heißen die Suchenden willkommen, aber die Verbreitung von Gottes Wort mit Seelenhunger zu vergleichen, das ist nicht richtig. Ich glaube, dieser Teil des Traums hat eine andere, viel finsterere Bedeutung!«
William richtete seinen Blick auf Sigurd, dessen Gesicht im Schatten seiner Kapuze lag. Niemand sagte etwas und es war offensichtlich, dass der alte Mystiker in tiefe Gedanken versunken war. William wartete. Er wusste, dass Sigurd seine Worte sorgfältig abwog, bevor er antwortete: »Bruder Rus kann der hungrige Wanderer sein!«, sagte der Alte schließlich, seine Stimme erklang leise, aber entschlossen. William nickte nur.
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