Wenn ich also nach etwas taste, so bewege und spüre ich keine virtuelle, sondern meine wirkliche Hand, die ihrerseits einen wirklichen Gegenstand berührt. Das wird dadurch möglich, dass der subjektive Raum in den objektiven Raum des Organismus in seiner Umwelt eingebettet ist. Das heißt: Wir sind leibhaftig in der Welt – und nicht Wesen, die nur das illusionäre Gefühl haben, in ihrem Körper zu stecken.
Freilich ist die Ausdehnung des subjektiven Leibs flexibel – nämlich entsprechend den jeweiligen funktionellen Erfordernissen. Sie stimmt nicht immer mit den Grenzen des Körpers exakt überein. So können auch Instrumente in das subjektive Körperschema integriert werden: Beim Tasten mit einem Stock empfindet man die Härte der betasteten Oberfläche nicht in der Hand, sondern an dessen Spitze. 25 Der geübte Autofahrer spürt die Qualität des Straßenbelags buchstäblich unter den Reifen seines Wagens. Ein Amputierter vermag durch allmähliche Gewöhnung seine Prothese zu »inkorporieren«, so dass sie für ihn zu einem neuen Leibglied wird. Und selbst eine Gummihand kann sich vorübergehend dem gespürten Leib anschließen, wenn sie in dessen Empfindungen und Bewegungen in koordinierter Weise einbezogen ist – nicht anders als beim Bauchreden die verstellte Stimme des Redners der Puppe zugeschrieben wird. In all diesen Fällen handelt es sich nicht um »bloße Illusionen« – vielmehr stellt das Sinnessystem nur die optimale Kohärenz der verschiedenen Sinnesmodalitäten innerhalb des gemeinsamen leiblichen Raums her. 26
Statt nur zentrales Konstrukt zu sein, modifiziert sich also der ausgedehnte Leibraum in Abhängigkeit von der jeweiligen Grenze, an der die tatsächliche Auseinandersetzung mit der Umwelt stattfindet. Dies ist wiederum funktionell sinnvoll: Der physische Kontakt mit dem eigentlichen Widerstand der Umgebung muss in das subjektive Erleben eingehen, damit ein adäquater Umgang mit Objekten und Werkzeugen möglich wird. Die angeblichen Illusionen, die dabei entstehen, sind in Wahrheit höchst sinnvolle Ausdehnungen unseres Leibbewusstseins im Kontakt mit der Umwelt. Wiederum folgt: Der objektive Raum des physischen Organismus und der subjektive Raum des leiblichen Erlebens sind ineinander verschränkt und modifizieren sich ständig wechselseitig.
Freilich zeigt das Phänomen der Phantomglieder oder -schmerzen, dass das gewohnheitsmäßige Körperschema (verankert im somatosensorischen Kortex des Gehirns) mit in den subjektiven Leibraum eingeht. Daher kann dessen Ausdehnung vom objektiv-körperlichen Raum ausnahmsweise erheblich abweichen. Solche Ausnahmen sprechen aber ebensowenig wie die schon beschriebenen Verschiebungsphänomene (Blindenstock, Autofahren) gegen die grundsätzliche Syntopiee, also die prinzipiell koextensive Räumlichkeit von Leib und Körper – im Gegenteil, sie bestätigen sie sogar: Wären Leib und Körper nicht normalerweise koextensiv, so würde dem Amputierten sein Phantomglied im Raum nicht weiter auffallen; es gäbe dann auch gar keine mögliche Diskrepanz beider Räumlichkeiten. Nur auf die grundsätzliche Syntopie kommt es aber an, soll die Illusionsthese bzw. die Vorstellung eines bloßen »Phantomleibs« widerlegt werden.
Um diesen für die weitere Untersuchung zentralen Punkt ganz deutlich zu machen, fragen wir noch einmal: Wo ist nun der Schmerz, wenn mir der Fuß wehtut? – Nach gängiger neurowissenschaftlicher Überzeugung dort, wo er erzeugt wird, also im Gehirn. Selbst John Searle, einer der prominentesten Kritiker des neurobiologischen Reduktionismus, ist dieser Auffassung:
»Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass unsere Schmerzen sich im physikalischen Raum innerhalb unseres Körpers befinden (…) Doch wissen wir nun, dass dies falsch ist. Das Hirn bildet ein Körperbild, und Schmerzen – wie alle körperlichen Empfindungen – gehören zum Körperbild. Der Schmerz-im-Fuß ist buchstäblich im physikalischen Raum des Hirns« (Searle 1993, 81).
Doch das Gehirn empfindet weder Schmerzen noch enthält es sie. Es produziert auch kein »Körperbild«, denn der erlebte Leib ist kein »Bild« von einem Körper, sondern es ist der Körper selbst als empfundener. Alles was sich im Gehirn findet, wenn jemand Schmerz empfindet, sind neuronale Aktivierungen im somatosensorischen Kortex und im Gyrus cinguli, und wie viel diese auch immer mit den Schmerzen zu tun haben mögen – sie sind sie nicht. 27
Der Schmerz-im-Fuß ist somit weder im physikalischen Raum des Fußes noch im physikalischen Raum des Gehirns, denn Schmerzen sind nun einmal weder anatomische Dinge wie Sehnen, Knochen oder Neuronen, noch physiologische Prozesse wie Ladungsverschiebungen an neuronalen Zellmembranen. Wo ist der Schmerz dann? Er ist im »Fuß-als-Teil-des-lebendigen-Körpers«, denn dieser einheitliche lebendige Körper (einschließlich des Gehirns) bringt auch eine leibliche, räumlich ausgedehnte Subjektivität hervor. Dass ich sinnvoll aussagen kann: »Ich habe Schmerzen im Fuß«, und denselben Fuß auch meinem Arzt zeigen kann, setzt voraus, dass der subjektive Raum meines Schmerzes und der objektive Raum meines Fußes nicht zwei getrennten Welten angehören, die nur in einer indirekt-kausalen Weise (nämlich über physiologische Prozesse im Gehirn) miteinander verknüpft sind. Es setzt voraus, dass der subjektive und der objektive Raum meines Körpers syntopisch zur Deckung kommen können.
Das ist für ein physikalistisch geprägtes Denken schwer akzeptabel – wird hier nicht das »Gespenst in der Maschine« 28 wieder zum Leben erweckt? Soll der Seele insgeheim wieder Einlass in die physikalisch gereinigte Welt verschafft werden? – Tatsächlich war es ein selbstverständlicher Bestandteil aristotelischer und vorneuzeitlicher Überzeugungen, dass die Seele unteilbar und dennoch mit dem organischen Körper koextensiv sei. 29 Noch Kant schreibt in seiner vorkritischen Periode:
»Ich würde mich also an der gemeinen Erfahrung halten und vorläufig sagen: wo ich empfinde, da bin ich. Ich bin ebenso unmittelbar in der Fingerspitze wie in dem Kopfe. Ich fühle den schmerzhaften Eindruck nicht an einer Gehirnnerve, wenn mich ein Leichdorn peinigt, sondern am Ende meiner Zehen. Keine Erfahrung lehrt mich, (…) mein unteilbares Ich in ein mikroskopisch kleines Plätzchen im Gehirn zu versperren, um von da aus den Hebezug meiner Körpermaschine in Bewegung zu setzen, oder dadurch selbst getroffen zu werden (…) Meine Seele ist ganz im ganzen Körper und in jedem seiner Teile.« 30
Erklärt man die phänomenale Erfahrung leiblicher Räumlichkeit nicht zum Schein, sondern setzt sie in Bezug zum intersubjektiven und damit objektiven Raum, so knüpft dies in gewissem Sinn tatsächlich an die Lehren von einer Koextensivität von »Seele« und »Körper« an, freilich mit einer ganz anderen Begrifflichkeit. Descartes wandte dagegen ein, der Körper sei im Prinzip eine Gliedermaschine und daher teilbar wie ein Leichnam, während die Seele schließlich ein unteilbares Ganzes darstelle. 31 Doch ist es nicht erforderlich, Descartes’ unabhängige Seelensubstanz zu reanimieren, um die Erfahrung unseres leiblichen In-der-Welt-Seins mit einer objektivierenden Sicht des Körpers in Einklang zu bringen. Voraussetzung ist vielmehr ein adäquater Begriff des Lebendigen: Der Organismus selbst stellt nämlich ein Funktionsganzes dar, das als solches unteilbar und gleichwohl im physikalischen Raum ausgedehnt ist – in Parallele zum subjektiven Leib und dessen unteilbarer Ausdehnung. 32
Dass dieses Ganze des lebendigen Organismus zum Träger einer gleichfalls räumlich ausgedehnten Subjektivität werden kann, fügt der rein physikalisch beschreibbaren Welt keine neue Entität hinzu, widerspricht also auch keinen physikalischen Gesetzen. Allerdings bedeutet es für uns selbst als lebendige Wesen eine fundamentale Veränderung: Wir sind keine abgeschlossenen Monaden mehr, denen ein Bild der Welt vorgespiegelt wird, sondern wir bewohnen unseren Leib und durch ihn die Welt. Die Phänomenologie kann damit unsere primäre Erfahrung wieder in ihr Recht setzen, als inkarnierte Wesen in der Welt zu sein. 33
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