»Und, keine schlechten Gefühle?« – Die Frage zielte auf seinen Konsum des Anderwassers. Florio berichtete von den Erfolgen beim Spiel, gab seine gesteigerte Lust zu, die sich im Verlauf der Phasen zu einer Sucht auswuchs, bono-bono, hellblau oder dunkelblau. Zorn und Niedergeschlagenheit, Schlafstörungen, Sinnesirritationen. Bilder hätten sich übereinandergeschoben, geblendet sei er zeitweise gewesen, überempfindlich, dann wieder unempfindlich, hoch und runter, rein und raus. Zum ersten Mal in seinem Leben habe er eine Prügelei angezettelt und dann auch nicht zurückgesteckt, ausgeteilt, eingesteckt, sich nicht mehr gespürt, sich zu sehr gespürt. Das Schreien und das Wimmern in seiner Kammer, ungekannte Laute, die aus ihm hervorgebrochen seien, leise, zittrig, begehrend und aufbrausend, dann wieder kleinlaut, jammernd, flehend. Er erzählte, wie ihm das Echo der Wände zuweilen entgegenschlug, ihn durchwirkte, kleinmachte und ihm wieder Mut einflößte, ihn barg und wiegte, sodann wieder aufrieb und durchschüttelte.
Florio räumte ein, seither mehr bei sich zu sein, alles in allem, allen Verquerungen und Widersprüchen zum Trotz, auch schneller, der Kopf zumindest, der Körper rebelliere manchmal, alles, alles gerate zuweilen in Aufruhr … als überhole er sich selbst, er dem Wodka deswegen häufiger zuspreche als früher, weil sich dann die Zeit wieder verlangsame, er zurück in den Takt fände – oder völlig aus dem Tritt gerate. Und weil sein Gegenüber schwieg, erzählte Florio auch von den Verzerrungen, mit denen er anfangs zu kämpfen hatte: die eigentümliche Ballung von Zeit, dieses Bewusstsein, das Bewusstwerden eines jeden Augenblicks. Wie jedes einzelne Ding seine Aufmerksamkeit erregte, alles um ihn herum vor Energie strotzte, ihn ansprach, herausforderte und vereinnahmte. Auf wundersame Weise habe sich dank des Anderwassers die Konzentrationsfähigkeit gesteigert, einzig Gregor sei im Stande gewesen, diesen Wandel, diese Verwandlung zu verstehen.
Florio hob den Kopf, wagte einen Blick in die Richtung, von wo es ihm rot entgegengeblinkt hatte. Nichts. Kein Schimpanse, keine Ratte. War er bei sich, ließen sich die Vorstellungen ordnen, abgleichen mit dem, was war. Empfindlichkeit und Empfänglichkeit, das ist das Erwachen. – Gregors Worte.
Natalia schlief, sie schlief tief und fest, unangefochten; nur ein gutes Wesen konnte sich so hingeben. Und weil sie das bei ihm konnte, an seiner Seite, auch an diesem unwirtlichen Ort, konnte er nicht gänzlich auf der falschen Spur sein, obschon er nur einer Ahnung folgte, seiner inneren Stimme, die doch fest verankert war, aus einer Gewissheit heraus zu ihm sprach, die er, einmal zur Ruhe gekommen, nicht weiter hinterfragen mochte.
Ein skurriler Wasserhändler mit verätztem Gesicht, mehr hatte er in dem Mann zunächst nicht gesehen. Dieser Alte konnte bedrohlich die Stirn runzeln, das aber konnten andere auch. »Ich habe die heutige Wasch-Formel mitentwickelt«, sagte er irgendwann, zog eine kleine Apparatur aus der Hosentasche, drückte auf einen der Knöpfe, und die Wand vor ihnen bewegte sich leise surrend zur Seite.
»Unsere Versorgung ist bis heute eines der bestgehüteten Geheimnisse. Das Wasser ist unser Lebenselixier, wie du weißt, und so galt es, alles, was unserem Fortbestehen und einem reibungslosen Zusammenleben förderlich ist, beizumischen. Mein Bruder und ich arbeiteten mit Feuereifer an der Verbesserung der Formel. Doch je zufriedener die Untersch zu sein schienen, desto skeptischer wurden wir. Eine unerwartete Trägheit stellte sich ein, die Leute begannen zu degenerieren. Wir kamen zu dem Schluss, dass Unglück und Angst wesentliche Antriebe unseres Forschens und Schaffens sind, die Bedingung jeder Neugier, jeden Fortschritts. Ohne Tiefen gibt es keine Höhen, kein Glücksgefühl. Das Staunen erstarb. Deswegen starteten wir ein zweites Projekt, entwickelten im Verborgenen die Formel für Anderwasser, das die physischen Bedürfnisse abdeckt, die Fortpflanzung nicht weiter verhindert, die Psyche aber weniger beeinflusst.«
Während der Alte sprach, sie waren inzwischen im hinteren Raum angelangt, hantierte er an allerlei Geräten, und als er seinen Vortrag unterbrach, den Blickkontakt mit Florio Schlemihl suchte und noch immer die Fragen sah, die dieser nicht zu stellen vermochte, lenkte er seine Schritte zu einem Becken hin und drehte den darüber angebrachten Hahn auf. »Komm! Was du hier siehst, ist natürliches, unbearbeitetes Wasser. Nimm einen Schluck!«
Florio hatte sich zur Zurückhaltung gemahnt, bevor er jedoch die Kontrolle über sich fand, hatte er eine Handvoll zum Mund geführt – und stellte verblüfft fest, dass es nach nichts roch! Der Alte nickte, lächelte. »Ja, das ist reines Wasser, besser geht’s nicht. Aber dein Körper braucht auch Vitamine, in den Pilzen ist kaum etwas drin, auch nicht im Einerlei. Darum die Aufbereitung, verstehst du?«
Später, es war ihr drittes oder viertes Treffen, hatte Florio erfahren, wie der Wassermann zu seinem verätzten Gesicht gekommen war. Ein Unfall. Eigentlich ein Glücksfall sei es gewesen, ansonsten wäre er längst in den Produktionshallen gelandet. Dort, bei den Pilzern, das wusste Florio, wurde keiner alt. Die Brüder waren unvorsichtig geworden, glaubten, die andern überzeugen zu können, dass man mit dem Zudröhnen der Untersch aufhören musste. Doch die Goner und ihre Oberen hatten nie bahnbrechende Entdeckungen erwartet, sondern reibungslose Abläufe, friedliches Beisammensein ohne Aggressionen, arbeitsame Untersch, psychisch einwandfrei.
Registriert war nur einer der Brüder gewesen, einer der Zwillinge. Die beiden lebten zu zweit das Leben von einem, ein Umstand, den sie, wie der Alte erzählte, einer weitsichtigen Ärztin zu verdanken hatten. Erst habe diese damit gerechnet, dass nur einer der schwachen Säuglinge es schaffen würde, nachdem sie aber beide durchbrachte, sah sie, welche Möglichkeiten sie den Jungs mit ihrer Eintragung eröffnete. Als der Bruder eines Tages nicht mehr zurückkam, wusste er sogleich, sie hatten ihn geholt, zu den Pilzern oder Tofflern in die Produktionshallen beordert oder gleich um die Ecke gebracht: »An eine andere, eine glückliche Fügung konnte ich damals nicht glauben.«
Nur wenige Tage später ging ein Experiment schief, und es sei aus gewesen mit der glatten Visage. Seither aber könne er wieder unter die Leute. Hätte er sein altes Gesicht behalten, er wäre früher oder später aufgeflogen. »Den Rest kannst du dir ja denken. Das war Vorsehung, mein junger Schlemihl, oder ganz einfach Glück, doppeltes Glück, wie sich dann herausstellte!«
Was Florio damals nicht ahnte: dass der Alte einmal selbst ein Goner war. Allein die vermeintliche Tatsache, dass es so etwas wie Zwillinge geben sollte, beschäftigte ihn mehr als genug. Doppelgänger, die gab es, zumindest auf den ersten Blick; Gestalten, die sich in ihrer äußeren Erscheinung sehr ähnlich waren. Was aber der Wassermann erzählt hatte, ging weit über ein Versehen hinaus – und sprengte seine Vorstellungskraft.
Gregor hatte Florio im Ungewissen gelassen, ihm kaum etwas von den Zusammenhängen eröffnet. Kein Wort davon, dass sie sich seit Generationen in einer großen unterirdischen Kolonie befanden, dass es dieses Oben tatsächlich gab, wo sich Menschen aufhielten, zu denen letztlich auch sie, die Untersch, gehörten. Was ihm der Wassermann nach und nach offenbarte, drohte Florio zu erdrücken. Seine kleine Welt geriet aus den Fugen, verdoppelte sich schlagartig. Zum unübersichtlichen System der einzelnen Chargen, deren genaue Zahl kaum jemand kannte, war eine Welt oberhalb hinzugekommen, eine Oberschicht, die einst entschieden hatte, eine unterirdische Kolonie zu begründen, eine Arbeitskolonie.
»Das Rätsel des Lebens wirst auch du nicht ergründen, fürchte ich, mit den Grundlagen aber solltest du dich vertraut machen.« Der Alte hatte ihm ein erstes Buch zur Lektüre anvertraut, einen Biologie-Kurs, angereichert mit vielen Illustrationen und noch mehr Text. Erst verstand Florio nahezu nichts, doch sein Ehrgeiz war angestachelt. Er wollte, wie der Wassermann es ausgedrückt hatte, den Schlemihl zum Leben erwecken. »Ohne Schatten gibt es keine Geschichte, und die Schatten der Untersch, das sind die Menschen.«
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