Bevor Florio ein Wort herausbrachte, zogen die beiden ab. Er atmete tief, wollte die Luft, die sie umgeben hatte, in sich aufnehmen, für sich bewahren, und ihn überkam ein Schluckauf wie lange nicht mehr. Fee oder Hexe? Sie hatte ihm noch zugelächelt.
Das Spect war der Ort des Vergessens und also der Ort der Gegenwart, durch alle Blauphasen hindurch. Im Spect vergaßen die Leute, dass es auch noch andere Orte gab, und zuweilen vergaßen sie sich selbst. Bald hatte es in anderen Chargen die ersten Nachahmer gegeben. Doch das Spect blieb unübertroffen.
In der ersten Zeit wunderte Florio sich manchmal, woher all die Automaten, Brettspiele und Karten kamen, doch er hatte Gregor nie behelligt. Die Dinge kamen irgendwoher. Das technische Gerät, die Apparaturen für Licht und Musik, die Bühne. Niemand schien sich darüber Gedanken zu machen, im Spect machte man sich keine Gedanken, man vergaß, man spielte und trank.
Als nach mehreren Blauphasen die Frau erneut auftauchte und auf ihn zuging, wie wenn sie nur eben schnell auf Toilette gewesen wäre, war Florio fassungslos. Sie hatte ihn zappeln lassen, sich in seinem Kopf eingenistet, und er hätte ihr am liebsten – eine gescheuert?, keine Beachtung geschenkt?, auf der Stelle die Kleider vom Leib gerissen?
Sie erkundigte sich, ob ihm die Gegner ausgegangen seien, und setzte sich auf einen der Barhocker. Florio reagierte im Reflex, dankbar, nicht in eine Starre verfallen zu sein, gab ein Zeichen, Manipeter hinter der Theke verstand und brachte ihr, während er sich an den kleinen Tisch zu ihr setzte, einen Wodka.
»Beschtächig?«, fragte sie zwischen die Köpfe der Männer, sodass nicht klar war, wen sie ansprach. Der Kollege meinte, er sei hier fürs Bringen, nicht fürs Antworten zuständig, zuckte mit den Schultern – guter Mann, dachte Florio – und zog von dannen. Sie hob das Glas, roch daran und wollte wissen, was in seinem Glas sei, und schon hatte sie die Gläser vertauscht.
Mehr als ein angedeutetes Nicken brachte Florio, damit beschäftigt, den drohenden Schluckauf im Zaum zu halten, nicht zustande. Ihm fiel keine Geschichte ein, die er hätte erzählen können; nichts sagen, erst einmal nichts sagen, half ihm seine innere Stimme. Manipeter würde sich hübsch hinter der Theke halten, Hilfestellungen in solchen Situationen waren tabu. Wie sie lächelte, die Augenbrauen asymmetrisch hob, einmal die eine, dann die andere, wie sie sein Unvermögen genoss, ihn ausweidete. Zu guter Letzt musste er sich unfaires Verhalten vorwerfen lassen: Es sei ja wohl kein Wunder, gewänne er jedes Spiel.
Die Bemerkung bezog sich zweifelsfrei auf den Inhalt seines Glases, das nun ihres war, aus dem sie eben einen kräftigen Schluck Anderwasser getrunken hatte. Keine Frage, Anderwasser gehörte zur Überlebensstrategie, doch man sprach nicht darüber, nicht in dieser Charge. Hätte er ihr erzählen sollen, wie viel Zeit er im Spect verbrachte, hätte er sie langweilen wollen? Florio mahnte sich zur Vorsicht. Sie schaute ihn mit großen Augen an; ein alles verschlingendes Feuer, ging es ihm durch den Kopf. Da verschluckte sie sich so sehr, dass er schon fürchtete, sie inszeniere sich über Gebühr. Doch das Prusten und die kurze Not waren echt, sie hatte Tränen in den Augen, und Florio ahnte, sie würde nichts von ihm übriglassen, ihn auffressen und unverdaut wieder ausspeien.
Sie tupfte sich mit einem Taschentuch die Wangen ab und schob eine Haarsträhne beiseite. »Natalia«, sagte sie, und sie wiederholte sich, damit er wieder festen Boden unter die Füße bekam: »Natalia«.
Du musst deiner Intuition vertrauen, dem Gegenspieler voraus sein, spüren, was er vorhat; kennst du seinen Plan, hast du gewonnen. – Gregors Worte.
Florio hatte keine Ahnung, was die Frau im Schild führte. Stellte sie ihm eine Falle? Woher wusste sie vom Anderwasser? Natalia wippte im Takt, nicht nur mit dem Fuß, wie Florio registrierte, und sie fragte, ob er die Musiksprache verstehe. Er nickte, korrigierte sich aber sogleich, denn wie die meisten im Spect verstand er nur wenige Wörter, erschloss sich jeweils einen Sinn, der zur Melodie passte, erfand sich vornehmlich eigene Geschichten. Den Rhythmus aufnehmen und eintauchen, mitsummen und sich tragen lassen, Laute artikulieren, Wörter nachbilden. Was ihm aber über die Lippen kam, waren lediglich Fragmente. Sonst war er nicht auf den Mund gefallen, ganz im Gegenteil, er galt als großer Geschichtenerzähler, nur brachte er beim Anblick Natalias nichts davon zur Geltung – was die Frau belustigte und ihn beinahe um den Verstand gebracht hätte.
Natalia erzählte, sie sei auf der Suche nach ihrem Mentor. Der sei hier früher oft verkehrt, seit einiger Zeit aber verschollen. Florio dachte sofort an Gregor, war sich indes sicher, dass seinem Freund kein Zögling anvertraut worden war. Du kannst nicht bluffen und dir dabei gleichzeitig in die Karten schauen lassen … Das wusste er auch so, wenngleich ihm Natalia grad nach allen Regeln des Augenaufschlags den Kopf verdrehte. Unvermittelt schüttete sie das restliche Anderwasser in sich hinein, rutschte vom Hocker und ging. Auf Toilette, dachte Florio, bono-bono dachte er, bis ihm klar wurde, dass ihn die Frau ein zweites Mal hatte sitzen lassen.
Der Schluckauf allerdings blieb aus. Die Lust, ein neues Spiel zu beginnen, war ihm vergangen. Er rührte die Figuren nicht an, starrte stattdessen nur vor sich hin. Im Wechsel vom Hell- ins Dunkelblau erklärte Florio die angebrochene Wodkaflasche zum Gegner, den Kopfschmerzen sah er gelassen entgegen. Er wollte sich schlecht fühlen, und er war bereit, bis zum Selbstmitleid und darüber hinaus zu gehen. Besser, er begänne am Tiefpunkt, als im Elend zu enden, sagte er sich – und kam sich weise vor. Er bewegte sich und bewegte sich nicht. Die Musik sprach für ihn. Florio nahm den Rhythmus auf, summte leise vor sich hin. Das mit Natalia sollte eine Liebesgeschichte werden, alles Leid und Sehnen am Anfang, damit die Sache auch ja gut ausgehe.
Du wirst wach, und es könnte der erste Tag in deinem Leben sein. Florio war, als wollte ihm Gregor durch die Dunkelheit Mut zusprechen. Doch die Zuversicht ging zusehends verschütt in diesem stinkenden, dunklen Loch, das nur vielleicht keine Sackgasse war. Er spürte die Anstrengung in den Gliedern, seine Muskeln waren übersäuert, und dennoch verlangte der Körper nach Bewegung, nach Licht und Luft. Natalia, da war er sicher, würde wieder aufwachen, die schlechten Gedanken vertreiben.
Florio hätte aufstehen und umkehren wollen. Ein Reflex oder ein Drang, es trieb ihn, es machte etwas mit ihm, und dieses Es, das war er, das war der Tunnelkoller. Der Alte hatte ihn gewarnt. Dunkelheit auf Dauer drücke aufs Gemüt. Eine Creme dagegen gab es nicht, auch kein anderes Mittel: sich ergeben, sich auf die Situation einlassen, sich nicht aufgeben. Da tritt ein Ich gegen ein Es an, ein junges Ungestüm gegen ein altes, so kam es Florio vor, eine eigenartige Auseinandersetzung – mit ungewissem Ausgang.
Dass Natalia Gregors Zögling sein könnte, hatte Florio auch noch, nachdem er mit ihr aufgebrochen war, beschäftigt. Er hatte es mehrmals mit Anspielungen versucht, wollte herausfinden, woher sie kam, wie sie ins Spect gefunden, wie sie ihn gefunden hatte. Seine Vorstellungskraft hatte ihn im Stich gelassen, keine Geschichte nirgends, auf die er sich einen Reim hätte machen können. Natalia hatte es auf ihn abgesehen, vom ersten Auftritt an, daran zweifelte Florio, wie sie jetzt zu seiner Rechten selig auf der Betonplatte in diesem stillgelegten Tunnel schlief, schon lange nicht mehr.
Florio war noch nicht mit Gregor fertig, und der Gedanke, ihn vielleicht schon bald wieder anzutreffen, hatte etwas Fröhliches. Heroische Gefühle schwangen mit, auch wenn er nicht genau wusste, was einen Helden auszeichnete. Er hatte Geschichten gehört, Geschichten und Gerüchte. Helden soll es gegeben haben, lange vor ihrer Zeit, in einer Welt, in der man Abenteuer noch suchte. Du wirst wach, und es könnte dein erster Tag sein. Ein jeder brauche einen Mitwisser, das hatte ihm Gregor noch vor dem Abschied gesagt. Erst hatte Florio vermutet, sein Freund sei ein Dieb, dem man auf die Schliche gekommen, dem man nun auf den Fersen war. Doch Gregors Geschichte war eine andere.
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