Florio erschrak, doch es war wohl nur das Quieken einer Ratte gewesen. Bald schon würde er Geräusche hören, die ihren Ursprung in seinem Kopf hatten. Die Sinne narrten einen, sobald man seine gewohnte Umgebung verließ, sobald man aus dem Tritt geriet. Der Schlafmangel würde ein Übriges tun. Er nahm einen Schluck aus der Wasserflasche und unterdrückte den Impuls, sein Lichtlein einzuschalten, versuchte, sich aufs Atmen zu konzentrieren. – Wie funktionierten Batterien? Die Frage hatte er sich lange nicht mehr gestellt, auf eine Antwort war er nie gekommen. Ratten waren ihm trotz aller Gegenrede unheimlich. Unberechenbare Tiere, dagegen ließ sich das Geheimnis der Batterien vergleichsweise leicht ertragen. Die Batterien kamen wie die Ratten von irgendwoher, doch sie führten kein Eigenleben.
Es gab schon auch Gesang in ihrer eigenen Sprache, doch im Spect standen nur wenige darauf, Manipeter und er gehörten zu den Ausnahmen, und wenn sie die Luken dichtmachten, um ein wenig aufzuräumen, sangen sie das eine oder andere Lied mit, Lieder von Hemmungen und Zündhölzern, die in den Chargen verboten waren. Wenn sie in den letzten Kehren waren, stimmte Manipeter den Abgesang auf den verstorbenen Ferdinand an, und Florio stimmte fröhlich ein: »Oh je, oh je, oh je!«
Erinnerungen seien das, was einem bliebe, einen forme – hatte wer gesagt? Florios Atem ging jetzt ruhiger, dennoch war an Schlaf nicht zu denken. Da war zu viel Tumult in seinem Kopf, zu viel Gregor:
Es hilft nichts. Du stehst auf und machst weiter. Ich weiß nicht mehr, wann genau es geschah, dass ich einen Moment zu lang liegengeblieben bin; ich kam nicht hoch, fragte mich, wer ich sei. Vielleicht gab diese Frage den Ausschlag. – So hatte Gregor seine Geschichte begonnen.
Gregor hätte weder Manipeter noch ihn auf seine Reise mitgenommen, dessen war sich Florio sicher. Sein Freund war ihm schon enteilt, als er noch da war. Dass ausgerechnet er, der kluge Gregor, das Denken angefangen hatte … Doch wäre er nicht gegangen, Natalia wäre womöglich nie in sein Leben getreten. Florio schaute in ihre Richtung, hätte sich gern Gewissheit verschafft, dass sie noch immer neben ihm lag … mit den Händen was anfangen, jemanden anfassen – »oh je, oh je, oh je!«
Solange das Ende der Geschichte offen bliebe, konnte er sich als Held darin vorstellen, den Zeichen weiter folgen, die Gregor beschrieben, die er hinterlassen hatte, sie zu lesen, hoffend, irgendwann zu verstehen. Hoffnung ist das Gegenstück zur Erinnerung; genau betrachtet sind die Unterschiede jedoch gering, das eine war, das andere soll werden – hatte wer gesagt?
Das erste Halbrund mit den fünf Strahlen auf dem waagrechten Pfeil hatten sie jedenfalls entdeckt und die Spur in diesem Labyrinth aufgenommen.
2
Als nach Gregors Abreise die Reserven des Anderwassers im Spect zur Neige gingen, machte sich Florio auf den Weg. Er kannte sich in den Chargen aus, wusste, wie man sich im System zu bewegen hatte, und er hatte von Gregor eine alte Zugangskarte bekommen. Bis dahin jedoch hatte er die dunklen Abschnitte und die schmalen Gänge gemieden. Zu viele verschwanden auf unerklärliche Weise.
Seit einiger Zeit fürchtete sich Florio vor Schimpansen, Manipeters Wunderfabelwesen, die sie zuweilen gemeinsam besangen, ohne jedoch zu wissen, was oder wer ein Schimpanse war. Ein Wesen ohne Hemmungen, ihnen nicht ganz unverwandt, so viel stand fest. Womöglich aber waren Schimpansen auch so etwas wie Riesenratten. In diesen Größenordnungen hatte Florio einige Male geträumt.
Das System war nicht für weite Wege angelegt, jeder wusste, in welche Charge er gehörte, und am besten blieb man, wo man war. Die persönlichen Plastikkarten öffneten nur wenige Türen. Der Passepartout, so hatte Gregor jene Karte genannt, die er ihm noch ausgehändigt hatte, würde ihm Zugänge verschaffen, von denen er nicht einmal ahnte, dass es sie gab.
Wenn Florio sich außerhalb des Spects befand und nicht in seiner Kammer war, fühlte er sich unwohl, sobald er Geräusche oder Gerüche wahrnahm, deren Herkunft er nicht kannte, die er nicht auf eine Ursache zurückführen konnte. Fremde Gesichter irritierten ihn, die ausdruckslosen wie die neugierigen, und im Zweifelsfall, dafür reichte schon ein Fingerschnippen aus der Ferne, fühlte er sich beobachtet. Auf Gregors Wegbeschreibung aber war Verlass. Florio passierte die Esszeile und kam beim ovalen Brunnen an, wo sich jeweils noch mehr Leute versammelten als im Spect. Die Leute kamen aus vielerlei Gründen zur Quelle des Ursprungs, wie der Brunnen auch genannt wurde. Hier bediente man sich, labte sich am Wasch. Hier suchte man nach bekannten Gesichtern, an diesem Brunnen wurde auch Tauschhandel getrieben. Wer etwas suchte, das er brauchte, kam zur Quelle des Ursprungs und brachte etwas mit, von dem er hoffte, ein anderer würde darauf anspringen.
Florio war länger nicht mehr an diesem Sammelplatz gewesen, die Kapuzenmänner schreckten ihn ab, wer sein Gesicht verbarg, hatte auch anderes zu verbergen. Hier wurden Waren feilgeboten, die es gar nicht gab, hier wurden Dinge verhandelt, die kaum einer verstand, wenngleich jeder so tat, als ob. Du gehst dann in die Richtung weiter, wo du nichts vermutest, wo es am dunkelsten ist – Gregors Stimme.
Es fiel Florio nicht leicht, sich gegen seinen Instinkt und für die Schimpansen zu entscheiden. Es gab viele dunkle Ecken, doch nur aus einer Richtung kam niemand. Dorthin musste er. Florio umrundete ein weiteres Mal das Oval des Brunnens, wurde von einer Frau angerempelt, die ihn kurz anstarrte und fluchend an ihm vorbeizog. Ein kleiner Kapuzenmann zupfte ihn am Ärmel, flüsterte ihm etwas zu, mehr ein Raunen war’s, ein Angebot oder eine Anfrage. Florio verstand nicht. Für seinen Passepartout hätte er wohl alles bekommen, und geriete er an den Falschen, er würde ohne Umschweife in Ketten gelegt, unschädlich gemacht – oder Schlimmeres.
Das Grundrauschen nahm zu, wenigstens kam es Florio so vor. Hatte er eben das Wort »Fleisch« vernommen? Ein Mädchen, das sich ihm untergehakt hatte, ohne dass er das mitbekommen hätte, zwinkerte ihm zu, lächelte, doch das war ein falsches Lächeln, ein verzerrter Mund in einem schiefen Gesicht. Er wand sich aus der Verhakung, hörte nicht mehr hin, machte einen Schritt zur Seite, vernahm ein verächtliches Zischen der Kleinen und schielte wieder in das Dunkel, zu jenem Ort, wo er hinmusste. Unbeobachtet. Was vom Brunnen aus gar nicht möglich war. Unauffällig. Auch das ließe sich kaum bewerkstelligen. Wie selbstverständlich? Florio versuchte es. Er stapfte los, nicht zu schnell und nicht zu langsam, um aus dem Rauschen heraus in das Dunkel hinein zu gelangen – und verschwand darin.
Zu seiner Überraschung fand er den beschriebenen Schacht sofort. Florio vermied es, sich umzudrehen. Er hätte niemanden entdeckt, stattdessen die Umrisse einer Überratte erahnt, einen Schatten, der ihm folgte. Das geschah aber auch so, in seinem Kopf wechselten sich die Gestalten der Verfolger ab. Als er um eine Ecke bog, lag ein spärlich beleuchteter Raum vor ihm, nicht mehr blau, vielmehr grüngräulich, so schien es ihm, eine Lichtquelle ließ sich nicht ausmachen. Florio gelangte an die Stahltür, wie er schon so manche gesehen hatte, sie gehörte zu den unüberwindbaren Hindernissen der Charge. Eigentlich. Er schob den Passepartout in den dafür vorgesehenen Schlitz neben der Tür. Kaum war die Karte im Innern verschwunden, wurde sie wieder ausgespuckt. Florio schoss das Blut in den Kopf, mehr als zwei weitere Versuche hatte er nicht. Er nahm die Karte wieder an sich und überprüfte, ob er nicht versehentlich seine eigene in den Schlitz geschoben hatte. Eine unnötige Überprüfung, denn darauf hatte er schon zuvor geachtet. Er konnte umkehren oder es noch einmal versuchen. Oder warten. Doch worauf? – Ein Selbstgespräch würde ihm vor dieser Tür nicht weiterhelfen.
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