Nachdem die Frau grüssend an ihrem Tisch vorbeigegangen war, freute sich Monika: „Endlich habe ich doch wenigstens einmal die ,Hahnenwirtin‘, wie sie sich selbst nennt, zu Gesicht bekommen. Sie gehört nämlich zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt. Haben Sie sich die Frau genau angeschaut, Herr Doktor?“
Helmut Wingern nickte. „Natürlich habe ich das getan. Die Frau fällt einem doch sofort auf.“
Monika erzählte eifrig weiter: „Sie soll besser wirtschaften können als ihr verstorbener Mann. Und sie hat sechs Söhne von ihrem Schlag. Alles studierte Leute, bis auf den Jüngsten, der einmal den ,Hahn‘ erben sollte. Aber er starb plötzlich, und sofort, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, brach der Zweitjüngste sein Chemiestudium ab und lernte Koch. Jetzt steht er in Mutters Küche. Er soll sein Handwerk ausgezeichnet verstehen.“ Sie lächelte. „Man erzählt, Helene Hahn hätte gesagt, so wären ihre sämtlichen Söhne erzogen, die Tradition ginge ihnen über alles. Wenn es nötig sein sollte, sprängen auch die anderen vier aus dem Studium heraus, um im ,Hahn‘ zu arbeiten. Das alte Haus lege denen, die da hineingehörten, eben Verpflichtungen auf.“
„Der Frau sieht man es an, dass sie so denkt und handelt“, meinte Dr. Wingern und schlug vor, aufzubrechen und ein Tanzcafé aufzusuchen.
Monika war gern einverstanden.
Am Ausgang stand die Wirtin, und ihr Kleid aus schwerem teurem Taft raschelte ein wenig geheimnisvoll, als sie bat: „Wenn es Ihnen im ,Hahn‘ gefallen hat, meine Herrschaften, dann kommen Sie, bitte, recht bald wieder.“
Monika dachte, das so einfach wirkende Kleid sei sicher teurer als ein halbes Dutzend von der Sorte, die sie selber sich leisten konnte, und sie hatte gesehen, dass die Frau eine Brosche in Form eines Hahnes aus ziemlich grossen Brillanten am Halsausschnitt trug.
„Wenn das Schmuckstück echt ist, wie es doch den Anschein hat, muss es mindestens einige Tausender wert sein“, schätzte Monikas Begleiter, und dann traten sie auf die Strasse hinaus, in die wundersame laue Luft des Septemberabends.
Der Mann schob seinen Arm unter den Monikas, und sie empfand es keineswegs unangenehm. Der Wein hatte sie beschwingt und das Gefühl, sich mitten im Erleben eines schönen, glücklichen Abends zu befinden, stimmte sie froh.
Mochte es heute so spät werden, wie es wollte! Sie dachte nicht daran, auch nur eine Minute früher heimzukehren als nötig.
Sie wanderten wieder durch den Schlosspark zurück, aber Monika merkte kaum, um wie viel dunkler es jetzt beim Rückweg hier unter den alten Bäumen geworden, weil sie nicht darauf geachtet hatte, dass ihr Begleiter sie sacht vom Hauptweg, den hohe Laternen erhellten, auf einen Nebenweg führte. Gespenstisch leuchteten weife Marmorgötter aus dichtem Gesträuch, das ihre Sockel umgab, und der Mann neben ihr zog sie fester an sich, flüsternd: „Ich habe dich lieb, Monika! Und ich habe es sofort gewusst, dass ich dich einfach liebhaben muss.“
Wie sanfte, betörende Musik glitten die Worte in ihr Ohr, und sie fühlte das jähe Erglühen ihrer Wangen. Kaum zu ertragen war die Glut.
Ich habe dich lieb, Monika! . . .
Der leichte Weinrausch verflog plötzlich, aber die Worte wirkten noch berauschender: Ich habe dich lieb, Monika! . . .
Ehe sie überhaupt daran dachte, sich zu wehren, lagen seine Lippen auf den ihren, machten sie völlig willenlos.
Ob der Kuss nur Sekunden dauerte oder vielleicht gar Minuten, das wusste sie nicht, aber sie fühlte mit Inbrunst, diese Sekunden oder Minuten waren der Höhepunkt ihres ganzen bisherigen Lebens, weil sich eine Überfülle von wunschloser Seligkeit darin zusammendrängte.
Sie wusste von dem Manne, an dessen Brust sie sich schmiegte, fast gar nichts. Er war ihr fremd, und doch hätte sie sich nicht hingebender küssen lassen können, wenn sie ihn schon lange gekannt und schon lange auf das Glück dieses Zueinanderfindens gewartet hätte.
Als sich seine Lippen von den ihren lösten, taumelte sie ein wenig, aber seine Arme, die sie flüchtig freigegeben, rissen sie gleich noch einmal an sich. Endlich liess er sie wiederum frei, aber sie musste tief Atem schöpfen, wie ein Mensch, der nach einem besonders starken Erleben erst ein wenig Ruhe erzwingen möchte.
Ihr Herz hämmerte und ihr Kopf versuchte vergeblich zu begreifen, wie es denn eigentlich möglich gewesen war, dass sie sich in einen solchen Taumel der Gefühle hatte verlieren können.
Sie schämte sich plötzlich vor dem Mann. Ernüchternde Fragen setzten ihr zu. Was musste er von ihr denken? In welche Klasse von Mädchen würde er sie jetzt einreihen? Ihr war jämmerlich elend zumute.
Sie wandte sich ab und wollte fortlaufen. Unüberlegt wie ein Kind, das sich fürchtet.
Er haschte nach ihren Händen.
„Liebes, törichtes Mädelchen, weshalb willst du mit einmal nach Hause? Du hattest doch vorhin noch reichlich viel Zeit. Du hast dich willig von mir küssen lassen, also gefalle ich dir. Eine wie du nimmt das nicht von jedem beliebigen Menschen hin, und ich bilde mir etwas darauf ein. Deshalb wäre ich ein Narr, dich laufen zu lassen.“ Er umklammerte ihre Hände dabei so fest, dass es sie schmerzte. „Dich gehen zu lassen, wäre die grösste Dummheit meines Lebens, und ich gestehe dir, Monika, ich habe schon eine stattliche Anzahl von Dummheiten gemacht. Dich aber habe ich wie einen Schatz gefunden, und den gebe ich nicht so leicht her.“
Er drückte heisse Küsse auf ihr Gesicht, gleichviel wo sie hintrafen, flüsterte ihr dazwischen bebend Zärtlichkeiten, zu, die sie empfand, als ob duftender Blumenregen auf sie niedertropfte von dem dunklen Himmel, an dem die ewigen Sternenwunder vor dem Jenseits leuchtende Wacht hielten . . .
Obschon sie schon ein paar Verehrer gehabt hatte, die ihr aber nicht besonders gefielen, hatte sie bisher ein ziemlich einförmiges Leben geführt und sich, angeregt durch Filme und Romane, manchmal Erlebnisse ausgemalt, nach denen sie eine heisse Sehnsucht verspürte.
Jetzt war das Erleben plötzlich da.
Fast zu plötzlich.
Sie sagte endlich mit stockendem Atem: „Ich möchte gern alles ungeschehen machen, weil Sie nun glauben müssen, ich wäre allzu leichte Ware.“
Er lachte ihr ins Gesicht.
„Du bist das herrlichste, süsseste Geschöpf, das mir ein wohlgesinntes Schicksal in den Weg geführt.“ Er stiess zwischen zusammengepressten Lippen hervor: „Ich glaube, für dich könnte ich die Welt aus den Angeln heben.“
Ihr wurde mit einemmal wieder leicht, und neckend glitt es an sein Ohr: „Ist das nicht vielleicht ein wenig zu viel versprochen? Ich denke mir das nämlich gar nicht so leicht.“
Er zog sie wieder an sich und seine Antwort: „Ich bin leider kein Mensch, der sich an Grosses heranwagt“, schien ihr viel zu ernst auf die harmlose Bemerkung.
Sie glaubte sogar Bitternis anklingen zu hören.
Sie antwortete: „Ich bin viel zu unbedeutend, als dass ein Mensch meinetwegen Grosses zu wagen bräuchte. Ich wüsste auch nicht weshalb; es würde sicher jede Gelegenheit dazu fehlen.“
Er nahm ihren Arm und drückte ihn an sich.
„Nach Hause lasse ich dich jetzt auf keinen Fall, jetzt wollen wir erst ein paarmal zusammen tanzen. Ich fühle, es ist heute so ein Abend, wie er ähnlich vielleicht nie wieder kommt. Was weiss man denn von der Zukunft, heute ist heut, mein Lieb!“
„Heute ist heut!“ wiederholte sie leise und liess sich noch einmal küssen, dann führte er sie zurück auf den Hauptweg des Schlossparks, und eine Viertelstunde später betraten sie ein Café, in dem getanzt wurde. Es war sehr besucht, aber Monika war es, als ob sie sich beide allein dort befänden. Sie sah von den vielen Menschen um sich herum nur den Mann, den sie vor ein paar Tagen noch gar nicht gekannt und der ihr in dieser Stunde schon so unendlich viel bedeutete, dass sie am liebsten gleich bei ihm geblieben wäre für immer.
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