Vermutlich erwartete er jetzt von ihr, dass sie nach seinem Namen fragte, aber eine neue Wehe war im Anmarsch und zwang sie dazu, sich nach hinten zu werfen und die Unterlippe zwischen die Zähne zu pressen.
Sie erinnerte sich noch an den Eingang zur Entbindungsstation. Eine Frau in einer luftigen Strickjacke stand davor. Sie fasste sich in den Rücken und blickte ausdruckslos ins Leere. Beth versuchte ihrem Blick zu begegnen, aber es war, als läge eine Haut über den Augen der Frau, sie hatte sich völlig in sich selbst und das, was in ihrem unförmigen Körper vorging, zurückgezogen.
Dann musste Ulf gekommen sein.
Ihr geliebter Mann und Freund. Er war gekommen und blieb die ganze Zeit bei ihr, den ganzen Tag und die Nacht und den ganzen nächsten Tag bis Mitternacht. Soweit sie sich erinnern konnte, versuchte er nicht einmal, zwischendurch ein wenig zu schlafen. Einmal aß er eine Banane. Das war ihr im Gedächtnis haften geblieben, weil sie sich vor dem faden Geruch ekelte, so wie sie sich vor der Konsistenz der Wörter ekelte, wenn er mit dem Bananenmus im Mund etwas sagte. Die Geräusche reizten sie und machten sie wütend.
Die Zwillinge wurden abends kurz nach zehn geboren, nach fast dreißig Stunden. Die Babys waren klein und unausgereift. Zu allem Überfluss hatte jedes von ihnen noch ein großes, entstellendes Muttermal, das eine auf der linken Wange und das andere auf dem Hals.
Es sah aus wie zwei Stempel. Ungenügend!
Natürlich stellte sie sich die übliche Frage, warum so etwas ausgerechnet ihr und Ulf passieren musste. Zwei Kinder, die nicht leben durften. Es war so ungerecht und grausam. Und warum? Es lag an ihren Herzen, sie waren zu schwach und zu klein. Der Fehler musste bereits zu Beginn der Schwangerschaft aufgetreten sein. In ihrem Inneren hatte sich etwas verschoben, sie taugte nicht, etwas war verkehrt. Jetzt erinnerte sie sich auch, dass sie von missgebildeten Föten geträumt hatte. Im Traum gebar sie Tiere, keine Kinder, sondern Tiere mit Schnäbeln und Kiemen. Träume dieser Art waren nichts Ungewöhnliches bei schwangeren Frauen. Aber es war ungewöhnlich, dass sich solche Träume erfüllten.
Sie war nie wieder schwanger geworden. Niemand konnte einen Grund dafür finden. Es hatte den Anschein, als würde sich etwas in ihr sperren, als säße die Angst wie eine massive und abstoßende Wand in ihrem Inneren, die Angst davor, dass es wieder passieren könnte und das Trauma sich wiederholte.
Unmittelbar nach der Geburt hatte Beth die beiden Kinder nicht angenommen, es ging ihr zu schlecht. Den Gesichtern des Personals hatte sie angesehen, dass etwas schiefgegangen war, sie sah, dass die Hebamme verkrampfte und sich hinter nervösem und hektischem Hantieren mit Verbänden und Kanülen verschanzte. Beth stellte keine Fragen. Das machte es für alle leichter.
Lange Zeit später bereute sie das. Aber da war es schon zu spät, sie zu berühren, ihre nackten Körper zu betrachten, den Konturen ihrer Leiber mit den Fingern zu folgen, nicht vor den braunen Flecken zurückzuschrecken.
Sie hätte ihnen gerne Namen gegeben, als sie noch am Leben waren, schöne Namen wie Alexandra und Frida. Zeitgemäße Namen. Vielleicht hätten sie die nötige Kraft zum Überleben geschöpft, wenn sie ihnen rechtzeitig Namen gegeben hätte.
Ulf glaubte nicht daran. Sie waren in vielen Dingen ganz verschiedener Ansicht. Das wurde ihr in den folgenden Monaten immer klarer.
Sie bogen auf den Waldweg, der kein Weg im eigentlichen Sinne war, sondern ein ausgefahrener Pfad voller holpriger Wurzeln. Beth schaute auf die Blaubeersträucher hinab. Dieses Jahr würde man kaum Blaubeeren pflücken können, die Früchte waren vertrocknet.
Dann sah sie eine Art Schatten, ein graues Flimmern und sie griff nach Ulf und ihr schnürte sich die Kehle zu. Er hielt an.
»Was ist los?«, fragte er.
Trotz der Hitze schauderte sie.
»Ich weiß nicht . . . da war ein Tier, es ist sicher Lioness gewesen.«
»Was willst du damit sagen, verdammt nochmal, habe ich etwa ein Tier überfahren?«
»Nein, nein.«
Er schaltete den Motor aus und wollte aussteigen, was ihr plötzlich Angst machte.
»Fahr weiter!«, rief sie. »Beeil dich, nun fahr schon, damit wir endlich nach Hause kommen, ich bin einfach nur müde, todmüde.«
Sie genehmigten sich einen Whisky. Beth saß vor dem Haus auf der Treppe. Die Sonne war mittlerweile zur anderen Seite des Hauses gewandert, aber es war dennoch ein heißer Abend. Ihre Muskeln entspannten sich.
»Jetzt lasse ich mich ein wenig benebeln«, sagte sie und ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln.
Sie dachte, er wäre unmittelbar hinter ihr, aber als sie sich umdrehte, war er nicht mehr da.
Sie summte ein wenig vor sich hin und es klang heiser und schräg.
»Lioness!«, rief sie lockend. »Kätzchen . . . wo seid ihr?«
Weit entfernt im Wald erklang der Ruf eines Raben. Dort oben hatte schon immer ein Rabenpaar genistet. Manchmal sah man sie am Himmel. Männchen und Weibchen blieben ein Leben lang zusammen, corvus corax. An der Treppe zur oberen Etage hing eine Radierung, die einen Raben zeigte. Ihre Mutter hatte eine kleine Notiz aus der Zeitung ausgeschnitten und unter das Bild geklebt.
»Sie leben von Abfällen und Aas und verkünden krächzend Tod und Streit.«
Sie dachte an ihre Mutter, die in diesem Garten aufgewachsen war. Die Obstbäume waren damals noch jung gewesen und gerade erst gepflanzt worden. Heute waren ihre Stämme mit Flechten und Moos bewachsen. Niemand kümmerte sich mehr um sie und befreite sie von Kokons und trockenen Zweigen. Das war zwar ein bisschen traurig, ließ sich aber nicht ändern. Viele alte Häuser wurden völlig ihrem Schicksal überlassen. Dieses Haus durfte wenigstens leben, wenn auch nur von Zeit zu Zeit.
Plötzlich störte die Stille sie. Sie trank einen Schluck Whisky und schüttelte sich, während sie ihn hinunterschluckte.
»Ulf!«, rief sie anschließend. »Wo bist du, was machst du?«
Er trat stumm um die Hausecke und sah verändert aus. Sie stand auf und hielt den Atem an.
Ulf legte einen Finger an seine Lippen. Sie starrte ihn an, ihr Herz klopfte.
»Was ist los?«
Er stand jetzt neben ihr auf der obersten Treppenstufe, fasste sie nicht an, schwieg. Dann sah sie, was er gesehen haben musste, da war etwas bei der Scheune, eine Bewegung, eine Gestalt. Sie griff so heftig nach dem Ärmel seines Sweaters, dass sie den Whisky verschüttete.
Manchmal packte sie eine rasende Wut, die aus ihrer Brust aufstieg und sich Bahn brach, eine urtümliche Kraft und Stärke.
So wie jetzt.
Sie schritt über den Rasen, marschierte, eine Säule hatte in ihrem Inneren Gestalt angenommen und um diese Säule schloss sich ihr wutentbrannter Körper. Zunächst sagte sie nichts, dann aber drang ein Gurgeln aus tiefster Kehle und wurde immer lauter, je schneller sie ging. Sie hatte keine Angst mehr, die Wut hatte jede Spur von Angst in ihr ausgelöscht. Auf ihrem Grund und Boden war ein fremder Mann, ein gefährlicher und bösartiger Verbrecher, der aus dem Gefängnis entflohen und in ihr Haus eingebrochen war. Sie verschwendete keinen Gedanken daran, dass er unter Umständen bewaffnet war, konnte nicht mehr rational und vernünftig denken. In ihrem Kopf gab es nur zwei Gedanken: Angriff und Verteidigung!
Ulf war der Mann, dies war eher eine Aufgabe für einen Mann, aber sie war die Frau und in diesem Moment die Starke und vielleicht folgte er ihr sogar auf den Fuß, um zu flehen und zu verhindern. Das spornte sie noch mehr an, machte sie blind vor Wut. Als sie zum Holzschuppen gelangte, stand der Hackklotz mit der Axt im Holz davor und ihre rechte Hand riss sie mit einem Ruck heraus. Schwer und fest lag sie in ihrer Hand, als sie sich der Scheune näherte. Ihre Ohren waren aufs Äußerste gespitzt: Für den Fall, dass jemand ihren Namen rief oder sie aufzuhalten versuchte.
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