Katja Freeh
LIEBE IST KEIN BEINBRUCH
Eine alternative Version des Romans »Solange du bei mir bist«
© 2021
édition el!es
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Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-95609-330-2
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»Jetzt hast du es also geschafft.« Tanjas Stimme klang ätzend wie Säure, als sie den Rücken der hochgewachsenen Frau ansprach, die vor ihr auf dem Gang stand und die sie auch von hinten überall erkannt hätte. »Was ist da jetzt angebracht zu sagen? Herzliches Beileid oder Herzlichen Glückwunsch?«
Der Rücken bewegte sich nicht, zeigte nicht, ob die Frau Tanja überhaupt gehört hatte. Doch dann drehte die Gestalt sich um. »Was du willst«, erwiderte Charlie kühl. »Du kannst auch gar nichts sagen.«
»Wäre vielleicht das Beste.« Tanja blickte sie an, ein wenig von unten herauf, wie immer, weil Charlie so viel größer war als sie.
Charlie trug eine dunkle Sonnenbrille, hier im Haus, und auch wenn die Gänge der Klinik strahlend weiß und neonhell erleuchtet waren, wäre das sicherlich nicht nötig gewesen. Hinter der Brille wirkte sie etwas blass. Aber da konnte Tanja sich auch täuschen. Durchgemachte Nächte hatten Charlie schon oft blass aussehen lassen, ohne dass das etwas zu bedeuten hatte. Daran konnte Tanja sich noch gut erinnern.
»Ja, wäre vielleicht das Beste«, wiederholte Charlie tonlos, ohne den aufmüpfigen Widerspruchsgeist oder die süffisante Amüsiertheit in der Stimme, die ihr sonst so eigen war.
»Willst du zu deiner Tante?«, fragte Tanja. Auf einmal war sie leicht verunsichert. Charlie wirkte fast wie eine Statue, und das passte so überhaupt nicht zu ihr. »Sie ist gerade noch auf Visite. Wird aber gleich kommen.« Fragend legte sie den Kopf zur Seite. »Du willst sie nicht schon wieder anpumpen, oder? Das Geld deiner . . . Frau kann so schnell doch noch nicht verbraucht sein. Sie ist doch gerade erst gestorben. Und sie war fast noch reicher als du damals, nachdem du geerbt hattest.«
Charlies Gesichtsausdruck hinter der Sonnenbrille blieb starr wie eine Maske. »Ja, das war sie«, bestätigte sie genauso tonlos wie zuvor. »Und nein, das Geld ist noch nicht verbraucht. Ich bin nicht hier, um Tante Petra anzupumpen.«
Diese so emotionslosen Mitteilungen, die fast genauso hätten klingen können, wären sie von der Roboterstimme der Telefonauskunft gekommen, verunsicherten Tanja noch mehr. Das war nicht Charlie, die da vor ihr stand. Charlie hätte ganz anders reagiert. Für Charlie war die ganze Welt ein Witz, nichts Ernstzunehmendes, nur für ihr eigenes Vergnügen da. Aber diese Gestalt hier, die wie Charlie aussah und wie Charlie sprach, aber überhaupt nicht wie Charlie wirkte, schien das Wort Vergnügen gar nicht zu kennen.
Erneut öffnete Tanja den Mund, um etwas zu sagen, aber da wurde sie von hinten unterbrochen.
»Ach Charlie«, begrüßte Dr. Petra Lüders, die mit einem Pulk weißbekittelter Ärztinnen und Ärzte hinter sich den Gang entlang kam, ihre Nichte. »Du bist schon da.« Sie drehte sich kurz um. »Das wär’s dann mit der Visite, meine Damen und Herren. Sie wissen, was Sie zu tun haben.«
Unverständliches Murmeln und bestätigendes Nicken antworteten ihr, und der Pulk löste sich auf.
Professor Lüders kam zu Charlie und Tanja herüber. »Wie geht es dir?«, fragte sie Charlie musternd. »Du bist gerade erst angekommen?«
»Ja. Von Fidschi.« Charlie nickte. »Tina –« Sie brach ab, und Tanja kam es so vor, als ob sie schlucken musste, bevor sie weitersprechen konnte. Aber das konnte nicht sein. Charlie? Betroffen von irgendetwas? »Tina«, setzte Charlie erneut an, »wird gerade in die Kapelle gebracht.«
»Sie war mit dir im Flugzeug?« Petra Lüders legte eine Hand auf Charlies Arm.
»Ja, im . . .« Ein leichtes Zögern, dann setzte Charlie fort: »Im Frachtraum.«
»Natürlich.« Petra Lüders nickte. »Komm. Wir gehen in mein Büro.«
Da Tanja nicht dazu eingeladen wurde, ging sie nicht mit, aber sie blickte den beiden nach, als sie den Gang entlang nebeneinanderher zum Büro der Chefärztin gingen. Charlie überragte ihre Tante weniger, als sie Tanja überragte – schließlich gehörten sie zur selben Familie –, aber dennoch erschien es Tanja so, als wären Charlies Schultern, die sonst so gerade wie ein Kleiderständer waren, etwas eingesunken. Gleichzeitig wirkte sie steif wie eine Puppe.
Aber das kam bestimmt nur vom ewigen Sitzen im Flugzeug. Von Fidschi bis nach Deutschland war es schließlich ein elend langer Flug. Da konnten einem schon alle Glieder einschlafen. Und offenbar war Charlie direkt vom Flugplatz hierhergekommen. Ihre Kleidung sah etwas zerknautscht aus, und außerdem war sie viel zu leicht und luftig angezogen für das deutsche Klima.
Tanjas Gedanken schweiften ab zum letzten Tag, als sie Charlie gesehen hatte. Da war alles ganz anders gewesen. Da war Charlie noch Charlie gewesen. Unverschämt, völlig auf sich selbst bezogen und sich keiner Schuld bewusst, weil sie eine Frau nur wegen ihres Geldes heiraten wollte. Was sie dann ja auch getan hatte.
Und jetzt war diese Frau tot. Was vorauszusehen gewesen war, weil sie schon todkrank gewesen war, als Charlie sie heiratete. Da hatte sie nur noch ein paar Monate zu leben gehabt. Diese paar Monate waren jetzt um, und Charlie war von ihrer Hochzeits-Weltreise zurück. Als Witwe.
Allerdings hätte Tanja sich diese Rückkehr fröhlicher vorgestellt. So wie Charlie immer gewesen war, wenn sie erreicht hatte, was sie wollte. Und was hatte sie schon nicht erreicht? Zuerst mit ihrem Geld und dann mit ihrem Charme. Manche hatten weder das eine noch das andere und andere hatten nur eins von beidem, aber Charlie hatte einfach alles. Immer alles gehabt. Von Kindheit an. Und dementsprechend verhielt sie sich auch. Sie wusste gar nicht, was Verlieren hieß, was Verzichten hieß, was Arbeit hieß, was Verpflichtung hieß oder Bindung. Sie war völlig bindungsunfähig, das hatte Tanja am eigenen Leib erfahren.
Aber Bindungsfähigkeit, Engagement, Verantwortungsbewusstsein, Zuneigung oder gar Liebe – das alles hatte es ja für diese Ehe nicht gebraucht. Bettina Hersbach war Charlie zum Opfer gefallen wie das sprichwörtliche Lamm. Sie hatte gar nicht gewusst, wie ihr geschah, hatte nicht gewusst, was Charlie wirklich von ihr wollte, hatte Charlies gespielte Zuneigung für echt gehalten.
Tanja seufzte. Hoffentlich hatte diese ihre Überzeugung bis zum Schluss angehalten. Hoffentlich hatte Charlie die ihr nicht noch ganz am Ende genommen, aus dieser Gleichgültigkeit heraus, mit der sie allem gegenüberstand. Das hätte Tanja Bettina Hersbach nicht gewünscht. Zwar hatte sie Charlies kurzzeitige Ehefrau nur flüchtig als Patientin hier in der Klinik kennengelernt, aber sie hatte sie auf Anhieb gemocht. Bettina Hersbach war die Art Mensch gewesen, die jeder nur mögen konnte. Etwas unbedarft, was das Leben betraf vielleicht, aber das war sie selbst, Tanja, auch einmal gewesen. Bevor sie Charlie getroffen hatte.
Ihre Kiefer pressten sich zusammen. Ja, bevor sie Charlie getroffen hatte, hatte sie tatsächlich noch an Liebe geglaubt, an echte Zuneigung, daran, dass man sich die Wahrheit sagte, dass man sich aufeinander verlassen konnte, dass man sich nicht gegenseitig belog und betrog, sobald sich auch nur die kleinste Gelegenheit dazu ergab.
Aber so eine Beziehung hatte Charlie nie im Sinn gehabt. So eine Art von Beziehung kannte sie gar nicht. Gar keine Art von Beziehung. Für sie war alles beziehungslos.
Nein, das stimmte nicht, korrigierte Tanja sich in Gedanken. Eine Art von Beziehung gab es für Charlie immer: die Beziehung zu sich selbst. Die war äußerst stabil.
Sie sah Charlie und Professor Lüders jetzt hinter deren Bürotür verschwinden. Weil das Büro ein paar Meter entfernt lag, lief das alles lautlos ab wie in einem Stummfilm. Oder sprachen sie tatsächlich nicht miteinander? Hatte ›Tante Petra‹ Charlie immer noch nicht verziehen?
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