Das war gut möglich, denn so lange war es ja noch nicht her, dass Professor Lüders ihrer Nichte große Vorwürfe gemacht hatte. Dass sie ihr eine Standpauke nach der anderen gehalten hatte, und zum Schluss die schwerwiegendste, die wegen ihrer Hochzeit mit einer Frau, die bald sterben musste und die Charlie nur heiratete, damit sie sie beerben konnte.
Aber darüber, was nun in diesem Büro besprochen wurde, würde Tanja wohl nichts erfahren, denn die Türen waren schalldicht.
»Dr. Kesten?« Eine Stimme sprach sie von hinten an, während sie immer noch sinnend dastand. Heute kamen irgendwie alle Stimmen von hinten.
»Ja?« Tanja drehte sich um.
»Können Sie gerade mal schauen?« Eine Krankenschwester blickte sie professionell besorgt an. »Frau Köhler –«
»Schon wieder?« Tanja ließ sie gar nicht ausreden, sondern unterbrach sie, während sie ein Seufzen unterdrückte.
»Ja, schon wieder«, bestätigte die Krankenschwester nüchtern. »Sie hat auch die nächste Zimmernachbarin äußerst rücksichtslos behandelt. Ich weiß wirklich nicht, wo ich sie noch einquartieren soll.«
»Da kann ich aber auch nichts machen«, sagte Tanja.
»Doch«, widersprach die Krankenschwester. »Sie können sie entlassen.«
»Entlassen?« Tanja runzelte die Stirn. »Aber sie ist noch nicht soweit. Nach der OP sollte sie noch mindestens eine Woche –«
»Sollte sie«, unterbrach diesmal die Krankenschwester sie. »Aber sie will entlassen werden. Und ehrlich gesagt: Hier hätte niemand etwas dagegen.« Sie hob die Augenbrauen. »Wir können unsere Nerven alle für was anderes gebrauchen.«
»Kann ich verstehen.« Tanja nickte. »Sie will also auf eigenes Risiko entlassen werden?«
Die Krankenschwester nickte. »Nachdem ich sie gebeten hatte, auf ihre Zimmernachbarin Rücksicht zu nehmen, die gestern operiert wurde, hat sie mal wieder einen ihrer Anfälle gekriegt. Warum sie Rücksicht nehmen sollte. Auf sie würde ja schließlich auch niemand Rücksicht nehmen.« Die Krankenschwester schüttelte ungläubig den Kopf. »Und dann kam auch noch ihr Mann zu Besuch mit ihrem kleinen Sohn. Der Kleine kann ja nichts dafür, aber er ist sehr laut und schlecht erzogen«, sie seufzte, »kein Wunder bei der Mutter, und hat im Zimmer Krach gemacht. Die Frischoperierte hatte gerade Besuch von einer Freundin, und die ging ganz ruhig zu dem Kleinen hin und sagte freundlich lächelnd: ›Pst. Leise, Kevin. Nicht so laut.‹ Der Kleine guckte sie nur verständnislos an, war dann aber still, aber daraufhin ist Frau Köhler aufgesprungen und meinte, sie ließe sich jetzt entlassen, das wäre eine Unverschämtheit, ihrem Sohn irgendetwas zu verbieten. Sie wäre fast noch auf die freundliche Besucherin losgegangen.«
»Was?« Tanja konnte es nicht fassen, obwohl sie mittlerweile schon einiges von Frau Köhler gehört hatte.
»Ich musste richtig dazwischengehen.« Die Krankenschwester nickte. »Und dann haben sie zu dritt das Zimmer verlassen. Der Mann hatte einen quietschenden Kinderwagen für den Kleinen mitgebracht, dessen Geräusch schon beim Reinfahren allen durch Mark und Bein gegangen war. Und statt den wenigstens beim Hinausfahren aus Rücksicht anzuheben – der Kleine lief ja nebenher –, hat er glaube ich noch mehr auf die Griffe gedrückt, damit es noch mehr quietscht und die arme Operierte, die sich erholen soll, bloß nicht weiterschlafen kann.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin ja normalerweise nicht so, aber wenn es eine Definition von asozial gibt, dann trifft die auf diese Familie zu.«
Dazu sagte Tanja lieber nichts. Die Krankenschwestern hatten täglich von morgens bis abends mit den Patienten zu tun, und sie konnte Schwester Ingrids Unmut verstehen. Frau Köhler war wirklich eine äußerst rücksichtslose und uneinsichtige Patientin. Aber wahrscheinlich stammte sie aus einer Familie, in der das normal war, und konnte deshalb nicht verstehen, dass andere sich darüber aufregten. Oder nicht einfach genauso rücksichtslos waren. Vermutlich erwartete sie das. Und selbst wenn eine Zimmernachbarin schlief, war das für Frau Köhler möglicherweise schon deshalb eine Beleidigung, weil sie sie nicht beachtete.
»Wenn sie das unbedingt will, muss ich sie entlassen«, nickte sie. »Da habe ich gar keine Wahl. Denn in Lebensgefahr ist sie nicht. Das wäre der einzige Grund, warum ich sie zurückhalten könnte.«
»Ich weiß.« Schwester Ingrid sah sie verständnisvoll an. »Sie empfinden es als Ihre Verantwortung, selbst wenn sie den Zettel unterschreibt. Und Sie würden sich als Ärztin Vorwürfe machen, falls dann bei ihr zu Hause etwas passiert und sie mit dem Notarztwagen in die Klinik zurückkommt. Aber es ist nicht Ihre Verantwortung. Frau Köhler ist ein erwachsener Mensch und ist verantwortlich für sich selbst. Dafür haben wir die Formulare ja.«
Schwester Ingrid hätte vom Alter her Tanjas Mutter sein können, und sie hatte sehr viel Erfahrung in ihrem Beruf. Deshalb vertraute Tanja ihr oft mehr als jungen Arztkollegen ihres eigenen Alters, die meinten, sie wüssten mehr als die Krankenschwestern, nur weil sie Ärzte waren.
So sah Tanja sich nicht. Sie hatte im Studium hart gearbeitet, um sich alles an Wissen anzueignen, was sie sich nur aneignen konnte, aber der Umgang mit Patienten kam im Studium praktisch nicht vor. Den hatte sie erst hier in der Klinik gelernt, von älteren, erfahrenen Ärztinnen wie Professor Lüders und von älteren, erfahrenen Krankenschwestern wie Schwester Ingrid.
»Da haben Sie natürlich recht.« Tanja atmete tief durch.
»Sie nehmen sich das einfach immer viel zu sehr zu Herzen, Frau Doktor«, sagte Schwester Ingrid. »Solche Leute sind es nicht wert, dass man sie sich zu Herzen nimmt. Sie haben das gar nicht verdient. Sie sind wie tollwütige Hunde, die um sich beißen. Und die schläfert man ein.«
»Schwester Ingrid!« Entsetzt starrte Tanja sie an.
»So habe ich das ja nicht gemeint«, beruhigte Schwester Ingrid sie sofort, nahm sie am Arm und zog sie mit sich. »Aber den kleinen Jungen, den würde ich ihnen am liebsten wegnehmen. Noch ein paar Jahre, und er ist genauso wie seine Eltern. Oder wenn er anders ist, dann werden sie ihm das Leben zur Hölle machen. Solchen Leuten sollte es echt verboten werden, Kinder zu kriegen.«
»Das kann man wohl kaum verhindern«, sagte Tanja.
Missbilligend schüttelte Schwester Ingrid den Kopf. »Warum gibt es eigentlich keinen Führerschein fürs Kinderkriegen? Und erst, wenn man den bestanden hat, darf man welche haben.«
Tanja musste schmunzeln, wenn sie an so einige Mütter dachte, die sie kannte. Gute Mütter eigentlich, aber wenn die was von Elternführerschein gehört hätten . . . »Den Vorschlag können Sie ja mal machen«, sagte sie.
»Sie würden den Führerschein sofort bestehen.« Zuversichtlich strahlte Schwester Ingrid sie an. »Wollen Sie es nicht mal versuchen?«
Schwester Ingrid war selbst Mutter von zwei Töchtern, und Tanja hatte immer wieder das Gefühl, dass sie es gern gesehen hätte, wenn Tanja es ihr nachgemacht hätte. Oder dass sie Tanja als eine Art dritte Tochter betrachtete, die es ihrer älteren Tochter hätte nachtun sollen, die Schwester Ingrid bereits ein Enkelkind geschenkt hatte. Auch wenn Schwester Ingrid – energiegeladen, wie sie war – überhaupt nicht wie eine Großmutter aussah.
»Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich mein Studium abgeschlossen habe«, erwiderte Tanja lächelnd. »Und ich habe noch viel zu lernen. Die ganzen Zusatzausbildungen, Weiterbildungen . . .«
Schwester Ingrid winkte ab. »Wenn Sie darauf warten wollen, bis Sie mit dem allen fertig sind, da können Sie alt und grau werden drüber«, meinte sie wegwerfend. »Das hört doch nie auf. Oder wollen Sie gar keine Kinder?« Das war für Schwester Ingrid anscheinend unvorstellbar.
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