„Wenn ihr wollt, setze ich mich ins Gebüsch und heule wie ein Wolf“, schlug Helge vor.
„Ich glaube nicht, daß die Pferde das mögen würden“, sagte Jörn.“ Reite lieber mit!“
„Ich wollte einen Brief an Claudia fertigschreiben“, sagte Helge, der seit neuestem seine Freizeit damit verbrachte, lange Briefe an seine Freundin in Passau zu verfassen. Vor kurzem hatte er auch einen freien Tag gehabt, war nachts mit dem Mofa zu ihr gefahren und in der darauffolgenden Nacht zurückgekommen; ein Streß, den man sich wirklich nur auflädt, wenn man bis über die Halskrause verliebt ist.
„Den Brief kannst du morgen auch noch schreiben“, sagte Jörn. „Ich hab morgen Nachtdienst und könnte ihn nachmittags in Rosenheim am Bahnhof einwerfen, wenn du willst. Dann kommt er schneller an.“
Helge brummte etwas Unverständliches.Trotzdem freute es ihn, daß wir ihn dabei haben wollten, das sah ich an seinem Gesicht. Seit dem Ende dieses Sommers war er umgänglicher geworden, war lange nicht mehr so streitsüchtig und überempfindlich wie früher und ließ sich ab und zu sogar herbei, etwas mit uns zusammen zu unternehmen.
„Dann kommst du also mit?“ fragte ich, den Meßbecher in der Hand, während er einen Sack Hafer öffnete.
„Schon möglich“, murmelte er, was so ungefähr die begeistertste Form der Zustimmung war, die man von ihm erwarten konnte.
Aus einer Ecke des Stalles rief Mikesch: „Ich fürchte, Nofret hat jetzt nicht mehr genug Milch für Joringel. Er führt sich auf, als wäre er am Verhungern.“
Joringel war unser „Flaschenkind“, eine Frühgeburt von besonders edler Rasse. Jorinde, seine Mutter, hatte ihn nicht angenommen, da wir ihn gleich nach der Geburt von ihr trennen mußten. Wochenlang hatten wir ihn mit der Flasche gefüttert. Schließlich war es uns gelungen, Nofret dazu zu bringen, Mutterstelle an Joringel zu vertreten und ihn zu säugen, nachdem ihr eigenes Fohlen selbständig war. Doch nun war sie wieder trächtig, und die Zeit, in der sie genug Milch für ein Fohlen hatte, schien vorbei zu sein.
„Au weh, und was machen wir jetzt?“ rief Matty zurück. „Bei Jorinde können wir jedenfalls keine Milch mehr abpumpen.“ „Vielleicht hat Julka genug, um Joringel auch noch mitzufüttern“, meinte Mikesch. „Ich hab den Eindruck, daß sie mehr Milch hat als ihr Fohlen braucht. Und wenn Joringel auch noch einige Zeit zusätzlich bei Nofret trinken kann, müßte es gehen.“
Die Pferde waren sichtlich verwundert, als wir fünf von ihnen nach der Fütterung sattelten und wieder aus dem Stall führten. Vroni, mit der Helge reiten wollte, wirkte nicht allzu begeistert über diese abendliche Störung. Wahrscheinlich wäre sie lieber in ihrer Box geblieben, um in Ruhe zu verdauen und zu dösen. Zweimal versuchte sie umzukehren; und als uns aus dem Stall entrüstetes Gewieher nachschallte, wieherte sie so herzzerreißend zurück, als sollte sie von einer Räuberbande entführt werden.
Das Mondlicht lag wie ein riesiger silberner Teppich auf der Wiese, die zum Wald hin abfiel. Das Gras verschluckte die Laute der Pferdehufe; nur der Wind flüsterte und raunte in den Bäumen, und der Bach gluckste zwischen Moospolstern. Wir ritten am Waldrand entlang, und ich dachte: Wenn’s das Kleine Volk gäbe, müßte es jetzt hier auf den Wiesen zwischen den Herbstzeitlosen tanzen; doch vielleicht gibt es nur in Irland Elfen und Gnome.
Die Pferde fanden immer mehr Gefallen an dem späten Ausritt. Sie bewegten sich mit schwingenden, weit ausgreifenden Schritten, die Köpfe hoch erhoben. Ihr Fell glänzte. Am schönsten war Katama, die aussah wie ein Pferd aus einer Sage von König Artus. Und Jörn mit seinen fast schulterlangen blonden Haaren, dem Stirnband und dem hageren Gesicht paßte zu ihr. Im Mondlicht wirkte er wie ein junger Ritter, nur das Zauberschwert fehlte ihm noch.
Als wir zum Mühlbach kamen, in den unser kleiner Waldbach mündete, überquerten wir die alte Brücke – vorsichtig, denn das Holz war morsch und schlüpfrig. Immer nur einer von uns ritt über die dunklen Planken, auf denen die Pferdehufe hallend klopften, während der nächste wartete, bis die Brücke frei war, ehe sein Pferd sie betrat.
Am anderen Bachufer hatte einst eine Mühle gestanden. Jörn und Matty hatten die Ruine in ihrer Kindheit noch gekannt und darin herumgestöbert. Jetzt waren nur noch ein paar graue Mühlsteine von dem Gebäude übrig, die am Bachufer verstreut lagen, halb überwachsen von Brombeerranken und Holundergebüsch.
Wir wandten uns nach Süden, dem Gebirge zu, und Matty begann zu singen:
„In einem kühlen Grunde,
da geht ein Mühlenrad,
mein Liebste ist verschwunden,
die dort gewohnet hat . . .“
Maja fiel mit ihrer hellen Stimme ein, und nach einer Weile sang auch Jörn mit, leise, denn er behauptete immer, er könne nicht singen. Ich summte nur mit, da ich den Text kaum kannte; doch Matty vergaß nie ein Lied, das er einmal gelernt hatte:
„Sie hat mir Treu versprochen,
gab mir ein’ Ring dabei,
sie hat die Treu gebrochen,
das Ringlein sprang entzwei.
Hör ich das Mühlrad gehen,
ich weiß nicht, was ich will.
Ich möcht am liebsten sterben,
dann wär’s auf einmal still.“
Helge schwieg beharrlich. Es war aber immerhin ein Fortschritt, daß er keine spöttische Bemerkung machte, denn ich wußte, daß er solche Lieder blödsinnig fand. Ich selbst hatte es früher genauso albern gefunden, Volkslieder zu singen, und geglaubt, das wäre nur etwas für Spießer. Doch seit ich Matty kannte, dachte ich anders darüber. Durch ihn hatte ich begriffen, daß auch diese Art von Musik sehr schön sein kann. Und plötzlich kam es mir vor, als hätte Eichendorff, der vor langer Zeit dieses Lied vom Mühlrad im kühlen Grund geschrieben hatte, unser Tal gekannt.
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