Wir ritten auf Traktorwegen zwischen abgeernteten Feldern dahin und dann ein Stück am Mühlbach entlang. Aus den Wäldern klang das Geräusch der Säge herüber, unterbrochen von Axtschlägen; vereinzelt hörte man auch einen Schuß, denn die Herbstjagd war freigegeben.
Ich versuchte, nicht an die Tiere zu denken, die jetzt wieder ihr Leben lassen mußten. In diesem Jahr erschien mir das Töten besonders sinnlos, denn es war allgemein bekannt, daß die wildlebenden Tiere durch das Grünfutter derart radioaktiv verseucht waren, daß es gefährlich war, ihr Fleisch zu essen. Trotzdem wurden auch in diesem Jahr wieder die üblichen Treibjagden abgehalten, an denen Jäger und Bauern teilnahmen. An solchen Tagen ritten wir nicht aus. Zu oft hörte man von Jagdunfällen, und ich wurde den Verdacht nicht los, daß es Leute gab, die auf alles schossen, was sich bewegte – warum nicht auch auf Pferde? Gesine hatte von einer Freundin, die in Italien lebte, die Geschichte von einem Sonntagsjäger gehört, der seinen eigenen Bruder bei einer Treibjagd „erlegt“ hatte.
Die merkwürdige Lust am Töten hatte ich nie verstehen können – und seit ich auf dem Land so eng mit Tieren zusammenlebte, begriff ich noch viel weniger, wie ein Mensch Freude daran haben konnte, ein harmloses, unschuldiges Geschöpf umzubringen.
„Menschen sind seltsam, Hazel“, sagte ich. „Manchmal ist’s verteufelt schwer, sie zu verstehen.“
Wir kamen an einem einsamen Hof vorbei, wo ein großer schwarzer Hund wie verrückt bellte und im Kreis herumlief, soweit es seine Kette erlaubte. Er fletschte die Zähne wie ein Werwolf, so voll wütender Verzweiflung, daß Hazel Angst bekam und zurückwich. Ich mußte ihr mehrere Minuten lang gut Zureden, um zu verhindern, daß sie umkehrte und nach Hause galoppierte.
„Der arme Kerl ist doch angebunden“, sagte ich. „Er kann uns nichts tun. Hab keine Angst.“ Und dabei dachte ich, daß der Hund wohl nur deshalb so angriffslustig war, weil er an der Kette lag. Schaudernd stellte ich mir vor, wie es sein mußte, Tag für Tag auf einem öden Hofplatz gefangen zu sein, bis sich die Sehnsucht nach Freiheit und Bewegung schließlich in ohnmächtigen Zorn und Haß verwandelte.
Unsere drei Rennpferde grasten auf der kleinen Koppel, als wir nach einer halben Stunde im Schrittempo zurückritten. Sie hoben die Köpfe und schnaubten. Lucky, der Falbe mit dem gelbweißen Haar und der schwarzen Mähne, kam zum Koppelzaun und streckte die Nase weit vor.
Da Hazel am langen Zügel ging, konnte sie selbst entscheiden, ob sie zum Zaun gehen und Bekanntschaft mit ihm schließen wollte; und nach einigem Zögern tat sie es auch. Ich blieb ruhig im Sattel sitzen, während die beiden sich beschnupperten.
Nach einer Weile kamen auch Star und Victory näher, doch gleich drei fremde Pferde auf einmal, das war zu viel für Hazel. Sie machte einen Satz zur Seite, und da ich nicht darauf vorbereitet war, verlor ich natürlich das Gleichgewicht. Noch ehe ich mich am Sattel festklammern konnte, rutschte ich nach links und plumpste rasch, aber unelegant ins Gras.
Hazel vollführte vor Schreck einen Bocksprung. Lucky, Star und Victory stoben hastig in verschiedene Richtungen auseinander. Ich raffte mich ziemlich benommen auf. Drüben bei den Fliederbüschen stand Mikesch und lachte.
Mein Hinterteil tat weh, und mein Kopf brummte, aber ich fing selbst zu kichern an, weil mir unversehens ein altes Kinderlied durch den Sinn ging: Hoppe, hoppe Reiter, wenn er fällt, dann schreit er; fällt er in den Sumpf, dann macht der Reiter plumps. . .
Als ich Hazels Zügel aufnahm, drückte sie ihre Nüstern an mein Haar und schnaubte. Natürlich wußte ich, daß es eine eiserne Regel im Reitsport gibt, nach der ein Reiter sich unverzüglich wieder in den Sattel zu schwingen hat, wenn er abgeworfen worden ist; vermutlich um dem Pferd zu zeigen, daß er sich nie und nimmer unterkriegen läßt. Doch solche Regeln gab es zwischen Hazel und mir nicht; und ich hatte keine Lust, jetzt wieder aufzusteigen, bloß um meine komische Würde zu wahren. Ich küßte sie nur auf die Nase, und dann gingen wir gemeinsam zum Stall, an Mikesch vorbei, der mir zuzwinkerte und sagte: „Bist du heute aber schnell abgestiegen!“
Ich klopfte mir den Schmutz von den Knien. „Ja“, sagte ich schleppend. „Ich bin voller Schwung, mein Blut ist Lava. Das muß der Föhn sein!“
Nachmittags war es ungewöhnlich warm. Ich legte mich im Obstgarten des Kavaliershäusls in die Hängematte – wohl zum letztenmal in diesem Jahr – und las ein Buch, das Jörn mir geliehen hatte: Solaris von Stanislaw Lem. Es war schwierig zu lesen, aber unglaublich spannend. Kirsty und Kathrinchen wuselten zwischen den Bäumen herum und sammelten Fallobst ein, doch ich war so in mein Buch vertieft, daß ich sie kaum bemerkte. Irgendwann kam auch Kater Carlo auf lautlosen Pfoten, kletterte in den Apfelbaum, sprang auf meine Schulter und setzte sich schließlich auf das Buch, als ich ihn nicht weiter beachtete. Da erwachte ich aus meiner Versunkenheit und sah, daß die Sonne hinter den Bäumen verschwand.
Aus dem Küchenfenster kam der verlockende Duft von frisch gekochtem Apfelgelee. Kater Carlo rieb seinen Kopf an meinem Arm, Kathrinchen sang im Garten: „Es geht ein Bi-Ba-Butzemann um unser Haus herum . . .“, und der Kater schnurrte wie besessen, während ich ihn zwischen den Ohren kraulte.
Wie plötzlich die Dunkelheit hereinbrach in diesen Herbsttagen! Die Zeit der Dämmerstunden war vorbei. Noch hatten wir uns nicht daran gewöhnt und wurden stets von der Finsternis überrascht; meist dann, wenn wir die Pferde von den Koppeln holten.
An diesem Abend jedoch hing ein wunderbarer, gleißender Vollmond über unserem Tal. Die Luft war mild; Föhnwolken zogen wie ein Meer aus violetten und und rosaroten Schleiern über den Himmel. Schon begann der Abendstern zu funkeln, und der mächtige Vierseithof, die Wiesen, Wälder und Hügel wechselten zwischen Licht und Dunkelheit.
„Allmächtige Tante, ist das schön!“ sagte Matty andächtig, als wir von den Koppeln kamen. „Wie auf einem Bild von Schwind.“
Helge warf ihm einen spöttischen Blick zu. „Mann, bist du mal wieder gebildet! Schwind, was ist das für ein Typ? Nie gehört.“
„Ein Spätromantiker“, erwiderte Matty friedlich. „Er hat wunderbare Bilder gemalt von Seen und Waldstücken im Mondschein. Immer wenn ich mir seine Bilder ansehe, denke ich, wie schön Deutschland mal gewesen sein muß, und wie armselig das ist, was sie uns davon übriggelassen haben mit ihren Autobahnen und Siedlungen und Kanälen und Flurbereinigungen.“
Fledermäuse schossen über die Dachfirste hinweg durchs Mondlicht, zu schnell, um ihnen mit den Augen zu folgen. Käuzchen schrien, und Dreililiens Katzen strichen wie Geisterwesen über den Hofplatz.
„Schaut euch bloß mal den Mond an!“ sagte Maja später im Stall, während wir die Pferde tränkten und fütterten. Groß und silberweiß stand er hinter den Fenstern und tauchte den Innenhof in unwirkliches Licht. „Man könnte glatt mondsüchtig werden! Warm genug wär’s jedenfalls, um im Nachthemd auf dem Dach herumzutapern!“
Jörn nickte. „Großvater hätte gesagt, das ist ein geschenkter Abend. Eigentlich ist’s zu schön, um im Haus herumzuhocken. Wie wär’s mit einem Mondscheinritt?“
„Gottchen, wie romantisch!“ sagte Helge.
„Gute Idee“, erwiderte Maja, ohne sich um ihn zu kümmern. „Obwohl ich heute abend anfangen wollte, mir einen Pulli zu stricken. Das ist immer so aufregend, anfangs jedenfalls.“
Matty sagte: „Stricken kannst du noch den ganzen Winter lang. Aber nicht an einem Abend spazierenreiten, an dem man einen Gruselfilm drehen könnte bei dem Mondschein und den Wolkenfetzen, mit den fast schon kahlen Bäumen und dem Käuzchengeschrei.“
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