Doch es war nicht wie bei anderen Pferden, die vor Freude und Übermut fast durchdrehen, wenn sie nach längerer Stallruhe wieder hinauskommen. Diese drei waren anders, fast wie Menschen, die jahrelang unter ständigem Leistungsdruck leben müssen und deren Dasein von Arbeit und Disziplin geprägt ist. Keines der Pferde versuchte sich loszureißen. Doch sie sahen sich wie verzaubert um, machten lange, schwingende Schritte, hatten die Köpfe hoch erhoben und witterten mit geblähten Nüstern und gespitzten Ohren. Ihre Augen leuchteten, sie schnaubten und wieherten und versenkten schließlich ihre Nasen tief im Gras, um zu fressen. Da wußten wir, daß wir sie unbesorgt freilassen konnten.
Obwohl der erwartete Freudentanz ausgeblieben war, obwohl sie nicht herumgetobt waren, hatte dieses Schauspiel doch etwas Rührendes an sich. Ich grub in meiner Hosentasche nach einem Taschentuch, fand keines und fuhr mir mit dem Handrükken über Augen und Nase. Maja schnüffelte. Auch Mattys Augen waren feucht.
„Von jetzt an kommen sie jeden Tag auf die Koppel“, sagte Mikesch. „Und täglich eine Stunde länger. Wenn ihre Fesseln ganz verheilt sind, können sie auch zu den Stuten – falls die sie akzeptieren.“
„Meinst du denn, daß sie’s nicht tun?“ fragte Maja.
„Man kann nie wissen. Mit neuen Pferden ist das immer so eine Sache. Es könnte Machtkämpfe geben. Aber wir werden sehen.“
Zwei Tage, ehe die Ferienreiter kamen, schlug das Wetter um. Die stillen, nebligen Tage, an denen meist erst mittags die Sonne durchkam, zu kurz, um die feuchten Wiesen zu trocknen, waren vorüber.
In einer Herbstnacht fegte ein Föhnsturm über unser Tal. Ich erwachte vom Heulen des Windes, der an den Fensterläden rüttelte und die Eiche im Garten des Kavaliershäusls zum Ächzen brachte. Mein Fensterflügel schlug auf und zu, und ein wunderlich warmer Wind strich durchs Zimmer wie der Atem eines lebenden Wesens.
Ich stand auf, um das Fenster zu schließen. Der Mond schien zwischen Wolkenfetzen, die wie verrückt über den Himmel jagten, und verbreitete ein unirdisches Licht. Undeutlich sah ich die Baumgruppen auf den Koppeln und die Büsche am Wegrand, die sich unter dem Ansturm des Windes bogen. Die Wälder waren wie ein dunkles Meer, das sich in starker Brandung aufbäumt und wieder glättet.
Am nächsten Morgen waren Wege und Wiesen mit Blättern, Zweigen und Aststücken bedeckt. Der Wind hatte nachgelassen, doch die Pferde waren unruhig nach dieser stürmischen Nacht. Sie empfingen uns mit rebellischem Gewieher, während sie sonst um diese frühe Morgenstunde noch dösten und uns verschlafen entgegensahen, wenn wir die Stalltür öffneten und Licht machten.
„Der Sturm hat sie erschreckt“, sagte Jörn. „Sie mögen’s nicht, wenn es um den Stall herum so heult und poltert. Komischerweise macht es ihnen nicht so viel aus, wenn sie auf der Weide sind – wahrscheinlich, weil sie dann sehen, was passiert, und den Sturm miterleben. Im Stall wissen sie nicht, was draußen los ist; und wenn eins von den Pferden Angst kriegt, drehen die anderen natürlich mit durch.“
Hazel war so aufgeregt, daß sie kaum fressen wollte, was bei ihr selten vorkam. Ich pusselte an diesem Morgen besonders lang mit ihr herum, obwohl ich eigentlich keine Zeit mehr hatte; in dreißig Minuten fuhr in Mariabrunn der Bus los, und ich hatte noch nicht geduscht.
Matty und Jörn hatten den Stall schon verlassen, während ich noch immer bei Hazel stand, bis Maja sagte: „Wenn du dich nicht beeilst, schaffst du den Bus nicht, Nell.“
Ich streichelte Hazel ein letztes Mal. „Ich weiß, aber ich wollte nicht gehen, ehe sie sich beruhigt hat. Schaust du später noch mal nach ihr?“
„Klar“, sagte Maja. „Mach dir keine Sorgen.“
Ich raste nach Hause und sprang dabei wie ein Känguruh über die herabgefallenen Holzstücke. Diesmal mußte eine Katzenwäsche genügen, obwohl ich wußte, daß gewisse Leute in der Schule wieder die Nase rümpfen und mich „Pferdeapfel“ nennen würden; ein Spitzname, der mir schon lange anhing. Carmen nannten sie „Schweinehirtin“, aber sie lachte nur darüber und meinte, es gäbe Schlimmeres. „Man kann machen, was man will, nach Stall riecht man sowieso und merkt’s selber gar nicht mehr“, sagte sie. „Und was ist schon dabei?“
Mit einer Hand griff ich nach meinem alten Trenchcoat, mit der anderen nach dem belegten Brot, das Kirsty mir reichte, küßte Kathrinchen auf die marmeladenbeschmierte Nasenspitze und stürmte hinaus, um mein Fahrrad aus dem Schuppen zu zerren.
Zu allem Überfluß konnte ich an diesem Morgen nicht so schnell radeln wie sonst, weil ich den Holzstücken auf dem Weg ausweichen mußte. Als ich die Hauptstraße von Mariabrunn erreichte, war es fünf nach sieben; doch der Bus stand wie durch ein Wunder noch vor der Gastwirtschaft. Ich schleuderte mein Fahrrad in den Graben, raste über die Straße und hechtete in den Bus.
Der Fahrer schüttelte tadelnd den Kopf und murmelte etwas von „höchster Eisenbahn“. Dann startete er mit einem solchen Ruck, daß ich sehr plötzlich zwischen Jörn und Matty auf den Sitz plumpste. Hinter uns saß Carmen und rief: „Lange hätten wir ihn nicht mehr aufhalten können. Was hast du gemacht? Bist du im Stall gesessen und hast Hazel den Huf gehalten?“ Obwohl ich kaum Luft bekam, mußte ich lachen. „So ungefähr. Herrje, jetzt hab ich mein Referat vergessen!“
„Bloß keine Panik“, sage Jörn. „Es gibt Schlimmeres.“
„Möglicherweise, obwohl mir gerade nichts einfällt“, erwiderte ich. „Unser Deutschlehrer kann so verdammt ironisch sein, daß man sich wie der letzte Idiot vorkommt.“
„Vielleicht ist er ja krank“, meinte Carmen aufmunternd. „Er hat gestern so blaß ausgeschaut. Du weißt doch, wenn Föhn ist, kriegt er meistens seine Migräne.“
Auf dem ganzen Weg zur Schule schickte ich Stoßgebete zum Himmel, daß Dr. Schmidkunz wirklich mit Migräne darniederlag. Und ich hatte Glück: In der dritten Stunde erschien eine junge Lehrerin, die erst seit kurzem an unserer Schule war, um die Deutschstunde in Vertretung abzuhalten. Von den beiden Referaten, die für diesen Tag angesetzt waren, wußte sie nichts.
Gegen Mittag legte sich der Wind. Als wir die Schule verließen, war der Himmel blankgefegt bis auf ein paar pastellfarbene Wolkenstreifen. Der Föhn hatte schwüle Wärme mitgebracht; plötzlich war die Sonne wieder voller Kraft und tauchte alles in blendendes Licht. Es war, als wäre der Sommer für kurze Zeit zurückgekehrt. Ich fühlte mich glücklich und beschwingt, als ich mit dem Bus nach Hause fuhr – allein diesmal, denn Carmen mußte zur Trompetenstunde, und Matty hatte heute noch Nachmittagsunterricht.
Die Pferde hatten die Schrecken der stürmischen Nacht vergessen und grasten friedlich, als ich nach dem Mittagessen den Pfad zwischen den Koppeln entlangging. Hazel stand bei den Erlenbüschen am Bach und kam den Hang herauf, um mich zu begrüßen. Die Sonne glänzte auf ihrem haselnußbraunen Fell, und ich merkte, daß es dichter und stärker geworden war; sie bekam ihr Winterhaar. Vroni, Eileen und Jule folgten ihr, und ich verteilte die mitgebrachten Äpfel unter ihnen. Unten bei den Jährlingen reparierten Mikesch und Sepp den Koppelzaun, und im Innenhof war Helge damit beschäftigt, das Sattelzeug zu reparieren.
„Reitest du?“ fragte er, als ich Hazel an ihm vorbei zur Stalltür führte.
Ich nickte. „Nur ein kurzes Stück, und nur über die Felder. Im Wald liegt heute sicher eine Menge Holz herum.“
Maja hatte ein halbes Dutzend Satteldecken gewaschen. Sie hingen zum Trocknen über dem Balkongeländer des Gesindehauses. Hopfi erschien mit ihrem Staubtuch an einem Fenster und schrie, wir sollten endlich den Innenhof kehren, und Helge murmelte etwas wie „alte Hexe“, während ich mich schleunigst in den Stall verzog, um Hazel zu satteln.
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