Die Sirene der Schiffswerft hatte mir vor ein paar Minuten mitgeteilt, daß jetzt Mittagspause war. Also mußte ich ein oder zwei Stunden warten.
Im Ausland hatte ich mich daran gewöhnt, abends Mittag zu essen, deshalb war ich nicht besonders hungrig. Was sollte ich machen, bis ich an den Computer herankonnte?
Ich dachte erneut nach. Ich mußte aufpassen, daß das nicht zu einer Gewohnheit wurde. Jetzt war es Hugo, der mir im Kopf herumspukte. Er wollte etwas von mir, was, wußte ich nicht, und außerdem - ging da nicht etwas Merkwürdiges in seinem Haus vor sich? Irgendjemand hatte Hugo umgebracht und mich niedergeschlagen, und sicher nicht einfach aus lauter Jux, selbst wenn ich einige kannte, die ein Vergnügen daran hätten.
War etwas an Hugos Haus, auf das ich nicht geachtet hatte? Ich war einer Spur nahe, konnte sie aber nicht fassen. Statt dessen fielen mir alle unsere heimlichen Spiele ein. Hugo hatte mir eine unsichtbare Schrift beigebracht. Mir war so, als schriebe man mit Zitronensaft, und das Geschriebene kam zum Vorschein, wenn man das Papier ans Feuer hielt. Hugo liebte solche Geheimniskrämerei. Er hatte immer noch ein Versteck in seinem Zimmer. Ich sprang auf. Das war es, was in meinem Kopf herumgespukt war. Hugos Versteck im Hohlraum unter den Fußbodenbrettern. Man mußte den Teppich ein bißchen wegziehen, ein Brett anheben, und schon war da ein ganz nettes Versteck.
Ich trug die Bücher zum Tresen, aber die Bibliothekarin war so mit dem Radio beschäftigt, daß sie mich kaum wahrnahm, als ich mich verabschiedete und ging.
Eine schmale Treppe führt von der J.C. Svabosgøta zur Rættará hinunter. Aus allen Häusern hörte ich die Rundfunknachrichten: Libanon, Noriega, Polen, Gorbatschow. Noch ein großer Fabriktrawler war Konkurs gegangen. Das Land verspürte brennenden Schmerz. Die Besitzer kauften ein solches Schiff meistens zum halben Preis zurück. Es war nicht notwendig, die Nachrichten daheim zu hören, man brauchte nur zwischen den Häusern herumzulaufen, um alles mitzubekommen. Als ich Müllers Lagerhaus ereichte und in die Skálatrøð einbog, verlor ich den Faden. Die Häuser waren jetzt zu weit entfernt, außerdem war nur noch der Veranstaltungskalender übrig, und wo es Bingo oder Gebetsandachten gab, konnte mir egal sein.
Die Anzahl der Boote in der Vestara Vág war enorm, sie schienen sich zu vermehren, mir war so, als würde die Menge jedesmal wachsen, wenn ich sie sah. An der Rasmus’ Bro, wo die Milchboote Tróndur und Sigmundur früher angelegt hatten, lag jetzt ein weißer Zweimaster. Ich habe in dieser Hinsicht nicht viel Ahnung, deshalb konnte ich nicht sagen, welcher Bootstyp es war, aber gut sah er aus. Die Flagge am Achtersteven ähnelte der niederländischen mit drei Querstreifen: rot, weiß, blau. Aber ein Symbol war in der Mitte. Dann kam es wohl aus einem anderen Erdteil. Vor allem jüngere Länder hatten oft irgendein Zeichen mitten in ihrer Flagge.
Vagliø und die Niels Finsensgøta waren menschenleer, nur in der Konditorei sah man neugierige Gesichter aus den Fenstern spähen. Die Sackgasse zu Hugos Haus war ebenso lebendig wie gestern abend, wie ein Grab. Doch mir schien, als könnte ich von irgendwoher Mittagsmusik hören.
Die Außentür war versiegelt. Also war die Polizei dagewesen. Das freute mich, dadurch wurde mir Hugos Leiche erspart, aber wie sollte ich jetzt hineinkommen? Auf keinen Fall wollte ich mitten in der Straße stehen und in aller Öffentlichkeit das Siegel der Polizei brechen, und das galt auch für die Kellertür. Auf dieser Seite des Hauses stand kein Fenster angelehnt, und als ich in den Hof kam, sah ich nur das gleiche Siegel und die gleichen geschlossenen Fenster.
Während ich dastand und überlegte, ob ich eine Scheibe einschlagen sollte, oder ich ebensogut das Siegel brechen konnte, fiel mein Blick auf die Kellertür. Mit dem Siegel stimmte etwas nicht, war es nicht locker? Ich ging hin und schaute es genauer an. Es war aufgebrochen und schlampig wieder aufgeklebt worden.
Sinn eines Siegel ist es ja nicht, jemanden daran zu hindern, irgendwo hineinzukommen. Aber man kann sofort sehen, ob jemand dagewesen ist. Hier mußte es sich um eine Person handeln, der es ganz egal war, ob die Polizei wußte, daß sie dagewesen war. Oder war sie noch da? Es lief mir eiskalt den Rücken herunter. Ich hatte keine Waffe. Sollte ich die Polizei anrufen? Nein, das würde zu lange dauern und zu viele Umstände bereiten.
Ich löste das Siegel von der Tür und öffnete sie vorsichtig. Es war vollkommen still, nichts war zu hören, kein einziger Laut. Meine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit im Keller, und ich sah, daß niemand vor der Treppe lag. Ich sah mich nach einer Waffe um, ein Spaten und eine Mistgabel standen an die Wand gelehnt. In meiner Not war ich kurz davor, den Spaten zu ergreifen, wenn gleich er eigentlich zu groß war, um ihn als Waffe in einem Haus zu benutzen, da sah ich eine große rostige Rohrzange auf der Fensterbank liegen. Ich ergriff sie und fühlte mich gleich sicherer.
Die Treppe knackte, obwohl ich versuchte, so vorsichtig wie möglich zu gehen. Die Tür zum Flur war zu, ich stand oben auf der Treppe fast im Dunkeln, hielt den Atem an und lauschte. Nichts zu hören.
Ich drückte die Klinke hinunter und schob die Tür vorsichtig mit der linken Hand auf, während die rechte mit der Rohrzange bereit war.
Der kleine Flur hatte sich seit gestern verändert. Er war von einem Unwetter heimgesucht worden. Die Schubladen waren aus der Kommode herausgerissen und auf dem Fußboden ausgekippt worden, die Kommode umgeworfen, der Spiegel in einer Ecke zerschlagen, obenauf lag der Mantel. Ich versuchte, nirgends draufzutreten. Es war nichts zu hören. Die Türen zur Küche und zur Stube standen weit offen.
Zuerst ging ich in die Stube. Der Tornado war hier mindestens genauso zerstörerisch gewesen. Es gab nichts, was stand oder lag, wie es sollte, Möbel, Bücher und Nippes in einem riesigen Durcheinander. Mittendrin lag das zerschnittene Sigmund Pettersen-Gemälde. Die Küche war ein Dreckhaufen. Alle Dosen waren auf dem Boden ausgekippt: Zucker, Kaffee, Tee und Mehl überall. Eine Schicht Mehl bedeckte Tisch, Stühle und den Boden. Der Kühlschrank stand mit brennendem Licht offen.
Ich verließ den Schweinestall und ging die Treppe nach oben. Irgendjemand hatte nach irgendwas gesucht, und das konnte noch nicht lange her sein, denn die Polizei mußte heute vormittag hiergewesen sein. Aber auf keinen Fall waren sie es gewesen, wie schlampig sie auch sein mochten. Ich lauschte so gut ich konnte, strengte meine Ohren an, aber nichts. Nicht einmal eine Uhr hörte ich.
Bei jeder Stufe, die ich nahm, erschien mir das Knacken so laut, daß ich glaubte, die gesamte Nachbarschaft würde es hören können, ganz zu schweigen von dem, der vielleicht im 1. Stock war.
Mein Herz schlug schneller.
Mir brach der Schweiß aus, und die Hand, die die Rohrzange hielt, wurde feucht.
Oben am Treppenabsatz stand ich für einen Augenblick wie der Erzengel mit gehobenem Flammenschwert, bereit, alle Sünder auszutreiben. Aus der fernen Wirklichkeit konnte man ein Auto starten und wegfahren hören.
Vorsichtig schaute ich in die leeren Zimmer und ins Bad. Niemand. Wie unten war alles durchwühlt und lag in einem großen Tohuwabohu.
Die Tür zu Hugos Zimmer war nur angelehnt. Ich schlich mich zu ihr, schob sie mit dem linken Fuß auf, bereit, mit der Rohrzange zuzuschlagen.
Keine Menschenseele. Aber was für eine Bescherung: Kleidung, Schubladen, Modellflugzeuge, Bücher und überhaupt alles, was drinnen war, in einem heillosen Durcheinander.
Vieles davon war zerbrochen oder auseinandergerissen. Der Person, die nach etwas gesucht hatte, war es vollkommen gleich gewesen, ob man es merken würde, außerdem hatte sie nichts gefunden, so brutal wie sie zu Werk gegangen war. Es war offensichtlich Hugos Zimmer, das am gründlichsten untersucht worden war, denn hier gab es nichts, das nicht auseinandergenommen worden war.
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