Der Herbst kam und breitete seine klare Bläue über Land und See.
Remmer van der Heyde war es, als werde sein Herz wieder jung an dieser Jugend, die es zu schirmen hatte. Er sah in dem Mädchen eine liebliche Blume, die ihm von einem späten Frühling geschenkt worden war.
Manchmal aber, wenn er in der Einsamkeit sass, machte er sich doch Vorwürfe darüber, dass er das Kind der milden Sorge einer Frau ganz entziehe. Eine frevelhafte Eigensucht sei es, wenn er das junge, erblühende Herz und die heimlich erwachende Seele, die in die warme Sonne eines Frühlings drängten, in das Spätherbstlicht seines Lebens stelle, sagte er zu sich. Und es sei ein törichter Wahn, zu glauben, dieses trübe vergehende Licht könne noch die Wunder eines Frühlings wirken.
Dann hatte er schwere Gedanken.
Er fragte sich, ob er nicht jetzt noch in den Tagen, wo die Sonne seines Lebens sich zum Untergange neige, eine Schuld auf sich lade, die er nie sühnen könne.
Aber was sollte er mit einer gedungenen Dienerin anfangen? Die hätte ja nicht einmal die Einsamkeit seines Hauses ertragen können.
Dann kam nach allen Zweifeln doch wieder eine herrliche Freudigkeit über sein Herz. Die durchrann ihn als eine köstliche Kraft, und er sagte:
„Ich will leben — dieses Kindes wegen, und ich will allen Reichtümern des Geistes und des Herzens, die in mir sind, nachgehen wie erfrischenden Quellen, damit die junge Menschenblume an ihnen sich erquicke.“
Er fühlte die ganze unverbrauchte Kraft der Liebe in seinem Herzen und war fest davon überzeugt, dass der Drang, diese Liebe in ein menschliches Wesen hinüberzuströmen, in keinem Menschen so stark sein könne wie in ihm.
Mit solchen Gedanken schritt er aus der Nacht, die Tau und Sternenlicht in seine Kleider geträufelt hatte, über die Schwelle seines Hauses und setzte sich noch eine Zeitlang vor die vielen Blätter, die er mit zierlicher Schrift beschrieben hatte.
Erst wenn die dumpfen Schläge der Uhr die Mitternacht kündeten, legte sich Remmer van der Heyde schlafen.
So schwanden die Jahre dahin.
Der Efeu an der Nordwand des Einsiedlerhauses war schon bis auf das Dach gestiegen.
An die anderen Wände hatte Remmer van der Heyde weisse Rosen gepflanzt. Sie sandten ihre Zweige empor und verhüllten die roten Backsteine, und wenn sie blühten, war es, als erglänzten die Wände von Silber.
Und es ging eine Geschichte von dem Rosenhause im Tief; die drang bis in die fernsten Höfe der Heide und noch weiter hinaus.
Es war die Geschichte eines alten Mannes und eines jungen Kindes und der wundersamen Wege, die die beiden zusammengeführt hatten. Und sie erzählte von wundersamen Tagen einer wundersamen Einsamkeit.
Wenn die Grossmütter ihren Enkeln von dem Rosenhause berichteten, so wurden die Augen der Kinder weit; denn es war lieblich wie ein Märchen, was sie vernahmen. Da lebte ein Mädchen von der Schönheit der himmlischen Engel in dem Hause eines steinalten Einsiedlers. Und einmal im Jahr — in der Johannisnacht, wenn im Lande die Rosen blühen — seien die Wände dieses Hauses aus Silber. Wenn der Wind daran streife, erklängen sie und gäben eine sanfte, schöne Musik. Die Wände der Stuben aber seien aus Glas, und dahinter leuchteten goldene und feurige Sterne, die liessen ein zauberhaftes Licht in die Gemächer rinnen ...
So erzählten die Leute.
Je länger und je weiter die Geschichte lief, desto lieblicher dichteten die Herzen der Menschen, und desto reicher und schöner wurde das Märchen von dem Einsiedler im Rosenhause.
Die Zeit ging.
Feis Tülp und Etje Harbers waren längst Mann und Frau geworden. Aber sie hatten keine Kinder.
Und Wiet Evers, der nach dem Untergange von Robbensiel in Wessel Jansens Hause gewohnt hatte, war schon lange gestorben.
In die Schule brauchte Elke van der Heyde nicht zu gehen; denn es erwies sich, dass sie weit über ihr Alter hinaus klug war, und dass ihr der alte Mann schon mehr beigebracht hatte, als die Kinder der Kätner und Heidebauern in den ersten Jahren ihrer Schulzeit lernen mussten.
Er führte Elke vor die Grösse der See oder vor die Pracht des gestirnten Himmels und sagte ihr, dass diese ganze Welt der goldenen, kreisenden Funken ein über alle Massen Gewaltiges sei und darin doch alles mit einer Bestimmtheit geschehe wie in dem kleinen Werke seiner Taschenuhr, die Elke schon so oft bewundert hatte.
Und er erkannte, dass die Ahnung eines Göttlichen sich in die Seele des heranwachsenden Mädchens senkte, wenn er ihr zeigte, wie der Wechsel der Tage und Jahre sich mit unveränderlicher Regelmässigkeit vollzieht.
Dann kam die Zeit, in der Elke zu dem Pfarrer des Heidedorfes gehen musste, damit dieser sie prüfe, wie tief sie in die Lehre der Kirche eingedrungen sei.
Sie stand nicht ohne Zagheit vor dem freundlichen Manne, der fast ebenso einsam in seinem Rohrdachhause neben der Kirche war wie Remmer van der Heyde in dem seinen.
Er wirkte erst seit wenigen Monaten in seinem Amte.
Elke van der Heyde hörte seine volle, weiche Stimme und verstand seine einfachen Fragen.
Sie fand auch, dass sie noch viel mehr wisse.
Der Pfarrer hiess Ehm Ras und war aus der Heidestadt gebürtig, in die das Märchen von dem Einsiedler von Robbensiel und seinem Kinde schon längst gedrungen war.
Auch er kannte es.
Und von dem Pfarrer erzählten die Leute, dass er ein junges, reiches Mädchen zur Braut habe, das er nun bald als seine Frau in das Pfarrhaus auf der Heide führen werde.
Als Elke dem Mann einige Zeit gegenübergestanden hatte, wurde ihr Blick wieder ganz frei; denn der Pfarrer trug in dieser Stunde nicht den ernsten Predigermantel, den sie in der Kirche an ihm gesehen hatte, und redete mit einer herzlichen Freundlichkeit zu ihr:
„Du bist in einer tiefen Einsamkeit aufgewachsen.“
„Ja, Herr Pastor; aber diese Zeit ist an mir vorübergeflogen — ich weiss nicht wie rasch.“
„Du bist stärker und grösser und, wie ich sehe, auch klüger geworden als die anderen deines Alters.“
Da senkte Elke van der Heide einen Augenblick die Lider.
Als sie den Blick wieder hob, sagte sie:
„Das mag daher kommen, weil mich mein Vater mit allem Fleisse unterrichtet und mit aller Liebe gepflegt hat. Er ist sehr klug und schreibt an einem Buche, das heisst: Die Wunderwelt des Meeres.“
Der Pfarrer sah Elke bei allem, was sie sagte, mit seinen forschenden blauen Augen an. Er sass in seinem Schreibstuhl und liess seine Hand im Sinnen über den blonden Vollbart gleiten.
Da erkannte er, dass dieses Kind schon eine Jungfrau geworden war.
Er sah, wie weich ihr helles Haar, das einen feinen, silbernen Spiegel hatte, sich um ihre Schläfen schmiegte, und dass der Zopf gleich einer Krone über ihrer weissen Stirne lag.
Er sah auch die Fülle ihrer Glieder und die schuldlose Klarheit ihrer blauen Augen und dachte bei sich: Gott hat an diesem Kinde ein Wunder getan.
Dann fragte er:
„Werde ich Remmer van der Heyde daheim treffen, wenn ich einmal in das Rosenhaus komme, und wird er mir wohl sein Buch zeigen?“
Bei diesen Worten kam ein Licht der Freude in ihre Augen.
„Oh,“ sagte sie, „er wird gern mit Ihnen reden und über alles Auskunft erteilen, was Sie von ihm wissen wollen.“
„Ist er nicht schon sehr alt?“
„Fünfundsiebzig Jahre ist er nun geworden. Aber er war nie krank, und wer ihn sieht, denkt nicht, dass er einmal sterben werde.“
„Und so wird er auch freundlich zu mir sein?“ fragte der Pfarrer lächelnd. Er fragte so, weil er wusste, dass Remmer van der Heyde niemals an den sonntäglichen Kirchgängen teilnahm.
„Er kann überhaupt nur freundlich sein, Herr; denn er ist von einer unendlichen Güte des Herzens.“
„Aber er redet doch selten mit einem Menschen?“ sagte Ehm Ras.
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