Da band Feis Tülp drei Pechfeuer, die in Wiet Evers Hause waren, an eine hohe Stange, entzündete die Feuer am Herdbrand und steckte die Stange vor dem Hause in die Erde.
Die Brände sollten dem Wagen, auf dem Etje Harbers um diese Zeit von der Heide her gegen Robbensiel fuhr, den Weg zeigen; denn es war ganz finster.
Fast bis an die Knie standen die Männer in der steigenden Flut und trugen aus Wiet Evers Hause, was ihnen gerade in die Hände fiel.
Das wurde auf der höher gelegenen Fenne, wo sie schon den alten Mann und sein Weib niedergelegt hatten, in Sicherheit gebracht.
Da lief ein Licht durch die Nacht — endlich!
Und hintendrein ein zweites: die Wagen rollten durch den Sturm heran.
Eine Weile später zischte die See unter den Hufen der Pferde zur Seite, und Wessel Jansen fiel den geängstigten Tieren in die Zügel. Dann leitete er sie zu der Stelle, wo Wiet Evers auf seinem Hausrate nach dem Tode rief.
Die alte Evers schwieg — es war, als horchte Peterke Evers in stummer Qual, ob sie die See höre, wie sie die Reste von Robbensiel verschlinge.
Aber die wilde Woge, die alles fressen würde, kam nicht.
Es war, als wirke das trutzige Friesenwerk, dass das alte Geschlecht vor Jahrhunderten um seine Siedlung gezogen hatte, auch in seinen Trümmern noch Wunder. Jede breite See zerschlug sich an den starken Pfeilern und suchte mit gebrochener Kraft ihren Weg diesseits des Dammes weiter. Nur das kurze Schlagen der Wellen war schon an allen Wänden, und Wiet Evers sah, dass er mit dem, was sein war, auf einer ganz kleinen Insel liege. Da wollten sie der alten Frau in den Kissen auf dem Wagen ein Lager bereiten.
Aber Peterke Evers rührte sich nicht.
„Du bist kalt, Möh,“ sagte Etje Harbers zu ihr. „Wir wollen dich nun mit den Betten decken und in unser sicheres Haus im Tief fahren.“
Da trug ein Knecht das Windlicht herbei. Und sie sahen: die alte Frau lehnte mit weit offenen Augen gegen einen Sack voll Betten. Aber ihre grossen grauen Augen waren wie die Fenster einer nächtlichen Fischerhütte, in der niemand daheim ist. Es war kein Licht mehr hinter den Fenstern — die Seele war aus diesem morschen Hause heimlich von hinnen gefahren.
Da legten sie die Tote auf den Wagen. Und Wiet Evers hockte sich in die Betten zu ihr und war neidisch.
Der Wind sang ein schauerliches Totenlied. Da rollte der Wagen davon, und sein Licht verlor sich hinter dem anderen Deiche im Dunkel.
Nicht lange nachher schlugen die Wogen schon bis an die Kanten des Rohrdaches und begannen darin zu wühlen und es zu zerreissen.
In dem anderen Hause, in dem noch zu retten war, verschloss Remmer van der Heyde seine Schränke und Kästen. Schon schäumte von Zeit zu Zeit eine brausende Flut unter dem Wagen hindurch, der nun vor der Haustür stand. Aber die Männer schritten durch das Wasser und bargen viel. Zuletzt noch des Alten geräumigen Glasbehälter mit den bunten Seesternen und den roten Korallen.
Sie warfen Betten darum.
Dann sprang die See in das Haus.
Und was noch unter dem Dache war, musste untergehen.
Mit den brennenden Stümpfen der Fackeln schritten die Menschen neben dem davonächzenden Gefährt.
So verliessen die letzten Robbensiel.
Und Robbensiel war seit dieser Nacht nicht mehr.
Während Peterke Evers in Wessel Jansens Hause ihren ewigen Schlaf schlief und die Zeiger der Uhren gegen die Zwölf rückten, flatterten die grauen Schaumfahnen der See auch um den Deich vor den Häusern vom Tief.
Der Wind brauste mit immer wilderer Macht, die Wasser kochten, und die Wildgänse klagten.
Um diese Zeit wachten die Männer, die ihr Leben für die letzten von Robbensiel eingesetzt hatten, im Hause von Harm Harbers.
Sie sassen in Ölzeug und Seestiefeln, die Südwester auf den Köpfen, beim Kartenspiel.
Etje Harbers aber legte manchmal ein neues Stück Torf in die Glut.
Dann erhob sich wieder das leise Flüstern im Hörn; denn Feis Tülp sass mit Etje Harbers im Schutze der traulichen Ecke, in die der Schein des Herdfeuers so heimlich rann.
In dieser Nacht küsste er Etje Harbers zum erstenmal.
Sie sassen einander so nahe, dass sie den Schlag ihrer Herzen hörten. Es war der gleiche tapfere Ton des Mitleides und Mutes, hüben und drüben; es war ein schöner, voller Klang, der ihnen sagte: wir wollen nicht zag sein, so oft die Not des Lebens noch an uns herantritt.
Darum küsste Feis Tülp Etje Harbers zum erstenmal.
Und die wildeste und herrlichste Nacht seines Lebens neigte sich ihrem Ende zu.
Das Licht des Tages kam.
Es war der dreizehnte März.
Die Männer auf dem Deiche sahen: wo Robbensiel gewesen war, schäumte nun die graue See, und die Möwen flogen darüber.
Der Sturm tobte, und Remmer van der Heyde hob sein Fernrohr und suchte weit draussen nach einem Zeichen, an dem er die Brigg seines Sohnes erkennen wollte.
Aber das Zeichen erschien nicht.
Am Abende flaute der Sturm ab, und die Sterne gingen an.
Die Männer wechselten sich in den Wachen nach jeder zweiten Stunde.
Aber auch der nächste Morgen kam, und es war nichts zu melden gewesen. Und wie sie alle auf dem Deiche standen, lag die Natur wieder in heiterem Lachen der Unschuld, das sich bis in die Fernen des Himmels dehnte.
Um diese Zeit nahm Harm Harbers dem alten Remmer van der Heyde das Glas aus der Hand.
Nachdem er es eine Weile auf eine bestimmte Stelle im Horizont gerichtet hatte, sagte er: „Es liegt ein neues Wrack auf Linsand. Aber es liegt in Luv, denn ich sehe nur die obere Hälfte eines Mastes.“
Da blickten sie alle hinaus über die See und bestätigten, was Harbers bemerkt hatte.
Dann streiften sich die Männer das Ölzeug über und schoben das Rettungsboot auf dem Karren an die Kante. Sie setzten die Segel, und das Boot flog hinaus.
Remmer van der Heyde allein blieb auf der Höhe des Deiches und sah die fliehenden Segel wie die Schwingen einer Möwe oder wie den Schaumkamm einer fernen Woge dahingleiten.
„Siehst du etwas in der Höhe der Rahen an dem grossen Maste, Harbers?“ fragte Jansen, wie das Boot dem Wrack näher kam.
„Es wird das Stück eines zerfetzten Segels sein,“ sagte Tülp.
„Nein, die Segel liegen gerefft auf den Rahen,“ sagte Harbers. „Der dunkle Ballen wird der letzte Mann des Schiffes sein, der sich dort festgeschlungen hat, als das Fahrzeug verloren war.“
Nun waren sie dem Wrack auf Rufweite nah.
„Hallo!“
Es kam keine Antwort zurück.
Sie brachten das Boot heran und sahen: es war ein Weib, das in der Höhe der Rahen festgeschlungen war, tief in Tücher gehüllt.
Feis Tülp stieg in den Stricken empor.
Da traf ein Wimmern sein Ohr, und ein sanfter Klang ward hörbar wie von einer silbernen Glocke.
Die Glocke hatte einst Remmer van der Heyde gehört und hing an einem Bande um den Hals eines Kindes. Das hatte seinen Arm um die Mutter geschlungen und hielt die kleine Glocke in der Hand und schwang sie, damit ihr Tönen die Mutter wecke.
Aber die Frau hatte das Haupt geneigt und war tot.
Und sie hielt das Kind mit ihren starren Armen fest.
Dies Kind hatte weiche, sonnenhelle Haare und weinte, als es Feis Tülp von dem Herzen der Toten nahm.
Wessel Jansen aber starrte empor und streckte Elke van der Heyde seine Arme entgegen.
Dann wickelten sie die Kleine ein, flössten ihr einen Schluck Wein über die Lippen und gaben ihr einen Bissen Brot zu essen.
Harm Harbers aber litt nicht, dass Wessel Jansen zu Tülp in die Wanten emporstieg, um seine tote Schwester loszubinden. Er sagte:
„Das geht über die Kraft eines Mannes. Kümmere dich indessen um das Kind, Jansen.“
Dann stieg der alte Schiffer selbst in die Rahen und half die Taue lösen, und sie liessen die Tote sanft herniedergleiten. Sie lehnten sie rückwärts ins Boot und breiteten ein Tuch über ihr stilles, bleiches Gesicht.
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