Seitdem blieben wir selten achtundvierzig Stunden ohne Regen. In der Zwischenzeit, wenn wir nicht Kräfte genug hatten, selbst hinunterzusteigen, pflegten wir ein Kleidungsstück an Takelgarn in die See zu lassen und es dann durchnäßt anzuziehen. Wenn aber ein Regenschauer uns auch nur ein paar Schlucke frischen Wassers verschaffte, entweder durch Auffangen des Regens mit dem Munde oder durch Auswringen aus den Kleidern, so strömte damit neues Leben und neue Kraft in uns, und wir vergaßen eine Zeitlang fast alle unsere Not.
Außerdem kauten wir, was wir nur finden konnten, gewöhnlich ein Stück Segeltuch, aber auch Blei. Blei soll ja giftig sein, wie ich nachher erfuhr, besonders wenn es in den Magen kommt. Ich kann jedoch versichern, daß ich oft selbst ein Stück Blei stundenlang ganz klein gekaut und zuweilen auch verschluckt habe, ohne daß es mir geschadet hätte. Es wird Ihnen vielleicht auffallen, daß ich gar kein Leder erwähne; aber wir hatten keins, da niemand von uns, als das Schiff vollschlug, in Schuhen war, und die Laskars nie Schuhe tragen. Auch wir zogen beispielsweise immer, wenn es regnete, die Schuhe aus, da das in Indien gegerbte Leder durch Nässe ganz unbrauchbar wird. Einige Stellen der Takelage, wo Tauwerk an Tauwerk schamfielte und die Gefahr des Brechens bestand, waren allerdings wie üblich mit ledernen Schmattings umnäht; aber die vom Hunger Gepeinigten, die daran zu kauen versuchten, gaben es bald auf, da Geruch und Geschmack durch das zum Labsalbern benutzte, minderwertige Fett allzu widerlich waren. Nur Jacky Hont vermochte sich zu überwinden. Er war im schlimmsten Soho aufgewachsen, hatte auch eine Art gewitzter Angst – von dunklen Blicken und Andeutungen genährt –, daß man ihn zu schlachten gedenke, und er tat alles, sich bei Kräften zu halten, um es seinen Nachstellern gebotenenfalls nicht leichtzumachen.
Stets bohrte in mir der Gedanke, was wohl das Ende unserer hilflos elenden Lage sein werde. Ich hatte gelesen oder gehört, daß kein Mensch ohne Nahrung länger als ein paar Tage leben könne, und als nun bereits mehrere verflossen waren, staunte ich, daß ich noch immer lebte, glaubte aber gewiß, daß jeder folgende Tag der letzte sein müsse. Auch erwartete ich – ähnlich wie Jacky Hont, ich muß es gestehen –, als bei einigen der Todeskampf nun wirklich herannahte, wir würden einander das Fleisch vom Leibe reißen. Diese Vorstellung verließ mich nicht, ich sah den Augenblick nahen, da unsere Zähne in Irrsinn und Gier sich an dem Fleisch des Nächsten vergehen würden. Und vielleicht söhnte mich die Furcht vor solcher Zukunft mit der Gegenwart aus.
Manche meiner Leidensgefährten starben im Wahnsinn; hatte ich anfangs dergleichen als Erlösung für mich betrachtet, so war jetzt mein stilles Gebet, daß mir der Verstand bis an mein Ende erhalten bleiben möge; denn diese entsetzliche Raserei, dieser Ausbruch des Tierhaften, gegen den wir uns wehren mußten, war nicht das holde Nichtwissen und Hinüberdämmern, das ich mir wünschte. Zuletzt fürchtete ich, alle meine Gefährten zu überleben und so das letzte Opfer zu werden; dennoch sehnte ich mich nicht, das nächste zu sein.
Einer von den Laskars, dessen Körper sich mit scheußlichen Geschwüren bedeckte, starb im Tauwerk des Besanmastes. Sein nächster Nachbar versuchte, den Leichnam in die See zu werfen; allein, dieser war so in die Taue geklemmt, daß er ihn nicht lösen konnte. Der verwesende Körper blieb noch einen oder zwei Tage hängen, bis der Gestank endlich unerträglich wurde und mehrere mit Hand anlegten.
Ich könnte mehrere solcher Fälle erzählen. Aber ich mag nicht. Schon die bloße Erinnerung, so lange es auch her ist, wird mir zu viel.«
William Mackay versank in Schweigen. Er wehrte nicht ab, als ihm Herr Parish neu einschenkte. Von Platow trat ans Fenster und sah bedrückt in den gelblichen Himmel, den sich lange, gekrümmte, graue Wolkendrachen teilten.
John Parish seufzte: Der Wind drehe wieder nach Süd, und diese Art Himmel fürchte er. Selbst wenn Popham noch heute eintreffe, wäre es zu spät, mit der Flotte die offene See zu erreichen. Aber immerhin, sie alle hätten es noch gut gegen jene auf der Juno damals.
David Parish legte seine knabenhafte Hand auf die braune Pranke Mackays, zog sie aber beschämt schnell wieder zurück. »Was ist aus dem Kapitän geworden?« flüsterte er.
Mackay sah ihn an und trank mit einem entschlossenen Ruck. »Ich will es dir erzählen«, sagte er düster.
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