Wir begannen, uns von unserem Todesschreck etwas zu erholen, und wagten zu hoffen, das Schiff werde sich aller Wahrscheinlichkeit nach in dieser Lage halten können. Nach den physikalischen Gesetzen mußte die Ladung Holz ein gänzliches Sinken unmöglich machen, der Sandballast aber uns vorm Kentern bewahren. Um nun jedoch das Gewicht zu erleichtern und auch in der Besorgnis, der Besan könnte unter der allzu großen Belastung durch so viele Personen brechen, holten wir die Besangaffel herunter, hatten aber als Werkzeug nur unsere Taschenmesser.
Obgleich das Schiff so greulich rollte, daß man sich nur mit Mühe festhalten konnte, obwohl der Sturm wieder auflebte und sein Konzert mit den brechenden Wogen vereinte, wurden doch einige von uns infolge der vorhergegangenen Anstrengungen vom Schlaf übermannt. Ich jedoch konnte mich nicht dazu bringen. Anfangs zeigte sich mir kein Schimmer der Hoffnung. Schließlich klammerte ich mich an die Vorstellung, wir würden bei Tagesanbruch sicherlich Land oder ein Schiff erblicken. Im Grunde meiner Seele aber hatte ich mich schon in das unvermeidlich scheinende Schicksal ergeben, und gerade diese Ruhe gab mir wieder tröstliche Gedanken über allerlei Möglichkeiten der Rettung ein. Denn ich hatte noch wenig Lust zum Sterben.
Ähnliches schien Fräulein Sanders zu empfinden. Wir saßen oder hockten, der Enge des weniger überfluteten Platzes angepaßt, so gut es ging dicht beieinander. Ich hörte keinen Laut der Klage von ihrem Mund, nur daß sie ab und zu erbebte, wenn eine Sturzwelle über unsere Füße lief. Einmal sagte sie dicht an meinem Ohr und ganz ruhig, ob ich nicht einen Kanonenschuß gehört hätte. Ich hatte nichts gehört, auch die anderen nicht. Sie sagte aber ganz gleichmütig, sehr weit ab von Madras könnten wir nicht sein, und danach schien sie in ihrer unbequemen Lage einzuschlummern.
Die ganze Nacht horchte ich nun krampfhaft auf einen Schuß, und wirklich bildete ich mir manchmal ein, einen zu hören; wenn ich das meinen Gefährten mitteilte, glaubte alsbald ein jeder, ihn wirklich vernommen zu haben. Nur der Schiffsjunge Jacky, der zuhöchst über uns im Besan saß, schrie dann ängstlich zurück: ›Ich höre nichts! Ich hab’ wirklich nichts gehört!‹ Die ihm am nächsten hingen, schlugen wütend nach ihm, weil sich niemand gern seine Hoffnung nehmen läßt.«
Treibend im Bengalischen Meer
Nur die Sohne glüht,
nur die Welle schwingt
auf der schattenlosen See.
Keine Blume blüht,
und kein Vogel singt.
Nur der Wind singt: Weh, ade.
»Und dann?« fragte David erregt.
Mackay nickte bekümmert: »Dann? Beim ersten Dämmern des Tages rief jemand: ›Ein Schiff! Ein Schiff!‹
Dies wurde von den an Bord befindlichen Muselmännern sogleich mit einem erlösten Anruf ihres Propheten erwidert, was auch uns an unsere Pflicht einem höheren Wesen gegenüber erinnerte, und wir brachten, jeder auf seine Art, dem lieben Gott unseren gerührtesten Dank für unsere Rettung dar, die einen stumm gesenkten Hauptes, die anderen weinend, der Kapitän selber mit offen dem Himmel zugewandten, laut jubelnden Antlitz.
Seine Frau, die sich weniger tapfer als ihre sogenannte Zofe gehalten, indem sie mit Jammern, ja selbst mit Vorwürfen nicht gekargt hatte, bat ihren Mann und uns alle mit gefalteten Händen um Verzeihung, welchen Überschwang wir mit Freude zurückwiesen, als hätte alles, was sie geäußert, wie ein Wiegenlied geklungen.
Leider aber hatten jenen seine Augen genauso getrogen wie uns in der Nacht unsere Ohren. Und vielleicht litten wir bei allen Prüfungen, die noch folgten, nicht so schmerzlich wie jetzt, als wir endlich erkennen mußten, daß nur eine Täuschung uns plötzlich so fromm gemacht hatte. Mein Herz erstarb. Und die Seelenruhe, die, wie ich mir geschmeichelt hatte, mich in allem, was auch komme, aufrechthalten sollte, war von da ab so ziemlich zum Teufel.
Nun, bei Tag sah es auch schrecklich genug aus auf dem, was unser Schiff Juno gewesen war. Und nicht weniger schrecklich war die See. Der Sturm setzte bei Tagesanbruch mit frischem Mute ein, als wolle er nun endlich ganz mit uns aufräumen, nachdem er uns noch eine Nacht gegönnt hatte. Wir trieben mit zertrümmertem Vorschiff, über dem sich ohne Pausen die Seen brachen. Dort, in der tanzenden Nadel des Fockmastes, hing ein Mann, aber über uns in der wirren Takelage des Besans, die jeden Augenblick zu brechen drohte, hingen über sechzig der Unglücklichen, und jeder machte sich Luft mit Klagen und Flüchen.
Auch die Frauen hatten nun beide ihre Fassung verloren, schrien kreischend, erbrachen sich, weinten einander am Halse, flehten uns an, etwas zu unternehmen, was die Lage ändern könne, baten, man möge sie doch losbinden und ihren Leiden ein Ende machen. Sie waren vom Gezeter der Laskars ganz von Sinnen, und diese wieder wurden verzweifelter durch jene weißen Frauen, die sie so fassungslos sicher noch nicht erlebt hatten.
Einige von uns, ich will es gleich sagen, ergaben sich freiwillig ihrem Schicksal, als die nächste Nacht und der nächste Morgen hereinbrachen und sich nichts geändert hatte. Sie stürzten sich stumm oder mit einem Aufschrei, von dem man nicht wußte, war es Fluch oder Gebet, ins Meer, das schon so nahe war und lange genug die Zungen nach ihnen gereckt hatte. Andere – unfähig, sich länger festzuhalten – wurden von dem hilflos taumelnden Schiff aus der Takelage geschleudert.
Der größere Teil aber war zu noch härteren Prüfungen bestimmt. Der Wind heulte drei lange Tage und Nächte in einem fort, und jeder Tag, jede Stunde vergrößerten unser Elend. Wir sahen voraus, daß wir endlich auf dem Wrack würden Hungers sterben müssen. Das ist so ziemlich die furchtbarste Gestalt, in der einem der Tod erscheinen kann. Ich will gestehen, daß beim Nachdenken sowohl meine wie auch der anderen Ansicht war, unser Leben durch das einzige Mittel, welches uns wahrscheinlich übrigblieb, zu fristen: nämlich durch das Fleisch derer, die eher als wir sich für immer ausstrecken würden. Ich habe erst lange nachher erfahren, daß auch die anderen so dachten. Anfangs schwiegen wir darüber, spielten nicht einmal darauf an, ausgenommen einmal, als der Konstabel, ein Irländer und Katholik, mich fragte, ob ich glaube, daß es Sünde sei, im äußersten Notfalle seine Zuflucht zu diesem Mittel zu nehmen.«
»Konstabler? Hattet ihr extra einen Polizisten an Bord?« staunte der junge Herr David.
Mackay schien froh, in einer wenig erbaulichen Erinnerung unterbrochen zu werden: »O nein, es war ein armes Luder, ein entlaufener Kanonier der Kolonialtruppen. Den Titel Konstabel führen bei der britischen Marine die Artillerie-Unteroffiziere und Büchsenmeister. Und da unser verunglückter Zimmermann auch die Schiffskanone und die Signale bedient hatte, sah Kapitän Bremner in ihm wenigstens einen Ersatz, und auch bei der Reparatur der Pumpen hat der Mann sich anstellig gezeigt. Übrigens verließen er und ein paar andere das Achterdeck und den Besan, da es am Fockmast wahrhaftig bequemer aussah, und versuchten, hinüberzuschwimmen. Drei oder vier büßten dabei ihr Leben ein. Der Konstabel und auch Jacky Hont aber gelangten glücklich hin. Mich ließ das ziemlich kalt. Auf meine anfängliche Unruhe war nämlich eine lähmende Gleichgültigkeit oder vielmehr Unempfindlichkeit gefolgt. Ich hatte nur den einen Wunsch, gut zu sitzen und die Zeit zu verdösen, ja, ich wünschte mir tatsächlich einen gewissen Grad von Unbewußtsein, von sanftem Wahnsinn. Nur das unnütze Klagen und Wimmern meiner Leidensgefährten brachte mich ein wenig auf. Statt mit ihnen zu fühlen und ihnen beizustehen, wie ich es doch wenigstens in bezug auf die beiden Frauen anfangs nach Kräften versucht, verdroß es mich später, daß sie mich aus meinem Hindämmern brachten.
In den ersten Tagen auf dem Wrack der Juno litt ich noch nicht so sehr unter Hunger und Durst, da das Wetter trübe und kühl war und auch die schrecklichen Szenen einem wohl den Appetit verschlugen.
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