Nachmittags gegen vier traf ich in K. ein, suchte kurz mein gewohntes Logis auf, um mein Gepäck abzulegen und mich etwas zu restaurieren, und begab mich dann zu dem inzwischen verstorbenen Konsul Pritzlaff, einem ganz entfernten Vetter und einstigen Geschäftsfreunde meines seligen Vaters. Der damals etwa sechzigjährige Herr war seinerzeit mein Vormund gewesen. Wir hatten uns bei aller Verschiedenheit der Temperamente stets recht gut verstanden, und ich hatte ihn auch später über meine Vermögensangelegenheiten auf dem laufenden erhalten und oft genug von seinem Rat profitiert. Auch diesmal hatte ich verschiedene Geschäfte mit ihm zu besprechen.
Da ich nicht darauf rechnen konnte, ihn noch in seinem Privatkontor zu treffen, so war ich direkt nach seinem Landhaus gepilgert, das draußen vor dem Tor in der Vorstadt lag, erfuhr aber hier zu meinem Leidwesen, daß er und seine Frau — ich nannte sie Onkel und Tante — einen größeren Ausflug zu Wagen unternommen hätten und nicht vor dem späten Abend zurückzuerwarten seien. Offenbar war der Brief, worin ich mein Kommen ankündigte, zu spät eingetroffen. Ich hinterließ meine Karte und ging meiner Wege.
Es war spät am Nachmittag, also an Geschäfte doch nicht mehr recht zu denken, und ich entschloß mich zu einem Spaziergang auf der ins Freie hinausführenden Allee, an der Haus und Park des Konsuls lagen. Ich schlenderte planlos bis ins nächste Dorf und spann an dem Gedankenfaden weiter, den ich während der Eisenbahnfahrt begonnen hatte. „Du bist achtunddreißig Jahre alt,“ sagte ich mir, „und hast also eigentlich das Gröbste und Schwerste vom Leben überstanden. Menschen von deiner Art, Zaghafte und Schwächlinge wie du, leiden zu keiner Zeit mehr als in ihrer Jugend, wo es im Wettstreit mit den Altersgenossen auf Kraft, Mut, Entschlossenheit ankommt und jeder gebrandmarkt ist, dem es daran fehlt. Du kannst ein Lied davon singen! Aber das liegt hinter dir, so gründlich, wie zum Glück deine Jugend hinter dir liegt. Das Prinzip der rohen Kraft, der brutalen Tat rein als Tat hat aufgehört, dein Leben zu bestimmen. Auch große Leidenschaften hast du kaum mehr zu befürchten. Die Zeit der Maigewitter ist vorbei und deine Apfelbäume sind längst verblüht, wenn sie überhaupt jemals geblüht haben. Deine Zukunft wirst du immer mehr nach rein geistigen Gesichtspunkten einrichten und kannst also auf einen angenehm temperierten Herbst rechnen nach der ungesunden Schwüle und Dumpfheit deiner jungen Jahre.“
Plötzlich fiel mir wieder die Erzählung meiner Kinderfrau ein. Aber bezeichnend für die gehobene und ungewöhnliche Stimmung, in der ich dahinschlenderte: ich zuckte mit den Achseln und warf den Kopf zurück, wie einer, der sich im Vertrauen auf sein Glück der Kugel des Feindes stellt, und irgendwo blitzte sogar ganz verwegen ein Einfall auf: „Wie nun, wenn du dem Spuk schlankweg an die Gurgel gehst und ihm das Genick umdrehst, und zwar einfach dadurch, daß du noch heiratest und Kinder zeugst? Dann hast du aufgehört, der Letzte deines Geschlechts zu sein, und dein Herr Urgroßvater mag sich noch ein- oder zweihundert Jährchen gedulden, ehe er zur Ruhe kommt.“ Ich mußte ordentlich in mich hineinlachen bei dem Gedanken, ich könnte dem alten Herrn auf diese simple und probate Weise ein Schnippchen schlagen und meinen Kopf in letzter Stunde aus der schon bereitgehaltenen Schlinge ziehen.
O menschliche Kurzsichtigkeit, die kaum die folgende Minute übersieht und im Wahn, einen untrüglichen Ausweg gefunden zu haben, gerade damit nichtsahnend den letzten Schritt ins Verderben tut. Von jeher ist mir die Geschichte des Ödipus als das tiefste Gleichnis erschienen für das boshafte Hineinlocken des Schuldlosen in Schuld und Not, welches dem Leben eigentümlich zu sein scheint, und wenn ich heute, wo der Vorhang über meinem Drama bereits wieder gefallen ist, zurückblickend mich an dem Septemberabend auf der Chaussee vor dem annoch geschlossenen Vorhang meiner Tragödie sehe, so weiß ich, daß auch ich im Begriffe stand, so ein Ödipus-Schicksal zu erleben, indem ich dem Verhängnis gerade dadurch den Kopf in den Rachen steckte, womit ich mich ihm am sichersten zu entziehen meinte.
Die Sonne war in einem Feuerwerk von Rot, Gelb und Violett untergegangen, und es dunkelte schon, als ich auf einem Umwege wieder in die Stadt zurückkam. Ich trat in eine Konditorei und ließ mir das Intelligenzblatt geben, um mich nach irgendeiner Zerstreuung für den Abend umzusehen. Das Stadttheater hatte seine Pforten noch nicht geöffnet, und es war wenig Auswahl. Schließlich fiel mein Blick auf eine Annonce ganz in einer Ecke, wonach das Sommertheater Elysium zu seiner Abschiedsvorstellung und gleichzeitig zum Benefiz der Frau Direktor einlud. Es wurde „Kieselack und seine Nichte vom Ballett“ gegeben. Leichte Kost, die mir gerade in die Stimmung paßte.
Ein Bühnennarr bin ich immer gewesen, und unser heimisches Stadttheater hat manche Zuwendung von mir erhalten, die sich allerdings, wie ich gestehen muß, öfters auch auf die mitwirkenden Damen erstreckt hat. Ich beschloß also, ins Elysium zu gehen, aß schnell in meinem Hotel zu Abend und fuhr dann hinaus, wieder an dem Hause des Konsuls vorbei, denn das Theater lag in derselben Vorstadt, nur wenige hundert Schritte weiter.
Es war ein großer Garten mit alten dichtbelaubten Linden, von leiser herbstlicher Färbung. Nur ein paar Laternen brannten, und die Zuschauer saßen rings herum im Halbdunkel an den Holztischen und verteilten ihre Aufmerksamkeit zwischen ihren Biergläsern und dem hellerleuchteten, überwölbten Bühnenhalbrund, das sich im Hintergrunde des Gartens auftat.
Rechts und links vom Podium zogen sich gedeckte Arkaden, die in Logen eingeteilt waren. In der vordersten Loge, dicht an der Bühne und etwa in gleicher Höhe mit ihr, nahm ich Platz, bestellte mir eine Flasche Wein und zündete mir eine Zigarre an.
Das Spiel hatte bereits begonnen und die Frau Direktor schickte ihre süßesten Triller zu mir herüber, wobei sie in wechselnden Posen alle ihre brünetten Reize zu enthüllen strebte. Mir schien, daß dies alles für mich berechnet sei, denn ich bemerkte zuerst niemand in den Logen, und das Volk unten im Garten zählte ja nicht.
Unter anderen Umständen hätte ich sie vielleicht nicht lange schmachten lassen und ihr das Taschentuch des Paschas zugeworfen, denn da ich mit meinen körperlichen Vorzügen nie habe Staat machen können, so hat es mir immer doppelte Lust bereitet, das, was meiner Person versagt wurde, mir durch meinen Geldbeutel zu erzwingen und mich für die Nichtachtung des weiblichen Geschlechtes dadurch zu rächen, daß ich das Weib in seiner Erniedrigung als käufliches Objekt, als Dirne, als Sklavin genoß. Merkwürdigerweise haben unter den solchermaßen von mir Beglückten nicht wenige Gefallen an ihrer Rolle gefunden. Ein Beweis, daß die weibliche Natur, zum mindesten im Zustande sinnlicher Erregung, ein brutales Herrentum nicht ungern duldet, oft sogar danach verlangt. Ich selbst aber bin auf diesem Schleichwege, wenn auch nicht zur Liebe selbst, immerhin in ihr Grenzgebiet gekommen. Ich habe mich statt an Wein gleichsam an Schnaps betrunken und so doch wenigstens mit einer Art von Rausch mich schadlos gehalten.
Aber wie nenne ich das Unnennbare, was an jenem Abend kurz nach meinem Eintreten in die Loge mich überfällt, alle meine Sinne und Nerven, mein Fühlen und Denken, meinen ganzen Menschen gefangen nimmt, so daß die schönsten Triller und üppigsten Haremsposen der Frau Direktor mich kalt lassen und meine Augen nur ein Einziges auf der Bühne wahrnehmen, nur mit einem Einzigen mitgehen, an einem Einzigen gebannt hängen? Wie nenne ich diese rätselhafte, tückische und zerstörende Kraft, die blitzschnell mein Blut entzündet und mein Mark versengt hatte?
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