1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Die Vorstellung ist zu Ende. Der Vorhang fällt und hebt sich noch ein halbes dutzendmal. Beifallsklatschen, Bravorufe, Blumen, Knixe, Kußhändchen, Gläserklirren, Stühlerücken, Geldklappern, knirschender Gartenkies. Die Laternen erlöschen. Ich sehe auf und stehe allein auf der dunkeln Straße, während hier und da aus der sich zerstreuenden Menge Stimmen, wie hin und her bewegte, immer fernere Lichtchen, aufblitzen und verschwinden.
Ich stehe wie betäubt und warte noch etwas. Irgendwo ganz tief in mir wurmt eine dunkle Hoffnung, die versäumte Gelegenheit noch in letzter Minute nachzuholen, wenn meine Angebetete aus dem Tor treten werde. Aber niemand kommt. Ich höre, wie von innen verriegelt wird. Der Bühnenausgang ist rückwärts nach einer hinteren Gasse zu, fällt mir ein. Also vorbei! Zu spät! Der Lebensstümper hat wieder einmal den Tatmenschen geschlagen.
Ich knirschte mit den Zähnen, drehte mich auf dem Absatz um, und während ich langsam nach Hause ging, malte ich mir aus, wie sie sich jetzt von den Offizieren zu De Crignis führen ließe.
Am folgenden Morgen erhielt ich, noch im Bette liegend, einen Brief von Pritzlaff. Der Konsul schrieb: „Lieber Junge, haben sehr bedauert, daß Du Dich umsonst bemüht hast. Tante und ich waren draußen bei Boltenhagens, noch etwas Luft schnappen, ehe der Winter und das verdammte Reißen wieder loslegen. Teplitz hat übrigens in alter Weise angeschlagen. Empfehle Dir das, wenn Du mal meine Jahre auf dem Buckel hast. Kriegsjahre doppelt gerechnet. Du verstehst mich. Also komm um elf aufs Kontor! Habe prima Überraschung für Dich in petto. Exquisite Sache! Nur zugreifen und nicht lang besinnen! Pünktlich um elf, mein Junge! Um zwölf auf die Börse. Weizen loco sehr fest. Könnte noch einige Waggons gebrauchen. Frühstück bei De Crignis! Oder ziehst Du Ungar vor? Dann natürlich ins Petersburg! Dein alter Onkel Fritzepritz. Diskretion vor Tante, falls Du sie vorher noch aufsuchst!“
Ich überlas den Brief mehrere Male, drehte das Papier hin und her und überlegte mir kopfschüttelnd, was für eine Überraschung gemeint sein könne. Etwas Weibliches vielleicht? Onkel Pritzlaff verstand sich darauf. Und doch ... ich konnte es mir nicht zusammenreimen.
Auch das Erlebnis vom gestrigen Abend schien verblaßt. Ich hatte Mühe, mir die Züge der Kleinen zurückzurufen, die noch vor wenigen Stunden so unauslöschlich in mich eingeschrieben schienen. Waren das Züge, Farben, Umrisse, die nur im Halbdunkel eines mattbeleuchteten Tingeltangels, in jener Dämmerung zwischen Traum und Wachen gleichsam phosphoreszierten, aber vor der ruhigen Klarheit des Tageslichts wie spurlos verschwanden, ohne darum doch aufzuhören, wirklich zu sein? Denn als ich unwillkürlich die Augen mit der Hand überdeckte, tauchte langsam ein süßes sinnliches Mädchengesicht wieder auf und leuchtete wie aus weiter Ferne in mystischem Licht.
Pritzlaffs Kontor lag in einem der hochgiebeligen, schmalbrüstigen Häuser der Altstadt. Die steile dunkle Treppe ächzte unter meinen Tritten. An einem unvermuteten Absatz stolperte ich und mußte mich am Geländer festhalten, um nicht rückwärts abzustürzen. Als ich die Klingel zog, schlug es von der nahen Domkirche her elf Uhr. Gleichzeitig hörte ich in dem Stockwerk über mir eine Tür öffnen und wieder zuschlagen, ohne daß jemand herunterkam. Aus dem Klang schloß ich, daß es eine Glastür sein müsse, wie übrigens auch die, vor der ich stand.
Warum mir alle diese Kleinigkeiten so in Erinnerung geblieben sind? Vielleicht weil die nachfolgende halbe Stunde über mein Leben entschieden und in ihrem rückwirkenden Lichte auch das scheinbar Bedeutungslose, das ihr vorausging, Bedeutung gewonnen hat. Aber was ist am letzten Ende denn wirklich bedeutungslos in dieser Welt der verborgenen und unerforschlichen Zusammenhänge? Das Ächzen der Treppe, das Stolpern auf dem Absatz, das Öffnen und Zuschlagen der Tür ... hat vielleicht ein geheimer Sinn in dem allen gelegen? Waren es Flüsterstimmen, in denen mein kommendes Schicksal zu mir redete, aber nur taube Ohren und stumpfe Sinne fand?
Der Konsul saß vor einem Stoß von Papieren und Kontobüchern und reichte mir mitten aus der Arbeit heraus die Hand, über die er einen Schreibärmel gestreift hatte.
„Nimm Platz, mein Junge. Ich bin gleich so weit.“
„Bitte, laß dich nicht stören. Ich habe Zeit.“
Während er hastig über das Papier weiterfegte, hier und da auf einem Blättchen sich Notizen machte und Zahlen ausrechnete, hatte ich Muße, ihn zu betrachten. Ich hatte ihn seit dem Frühjahr nicht gesehen und fand ihn merklich gealtert. Die große, breitschulterige, immer etwas schwerfällige Gestalt war sehr zusammengesunken. Das vordem noch kohlschwarze Haar war stark ergraut und überquerte in dünnen Strähnen den mächtigen Schädel, der in seiner plattgedrückten Kugelform an einen tief über dem Horizont hängenden Vollmond erinnerte. Sollte dieser Vollmond, der seit der Kindheit an meinem Himmel gestanden hatte, wirklich schon seinem kalendermäßigen Untergang nahe sein? So fragte ich mich. Aber die breite fleischige Knollennase in dem glattrasierten Gesicht und das ausladende wollüstige Kinn verrieten noch die alten Lebensinstinkte dieser in Tat wie in Genuß gleich unermüdlichen und eisernen Natur.
Entschlossenheit, Rücksichtslosigkeit, selbst Grausamkeit, wenn es galt, einen geschäftlichen Vorteil auszunützen oder einem langjährigen Konkurrenten in einem günstigen Moment das Messer auf die Brust zu setzen, auf der anderen Seite eine durstige, durch nichts zu ersättigende Empfänglichkeit für die weichen Dinge dieser Welt, das waren die Pole, zwischen denen die Bahn dieses körperlich und geistig über das Maß gewachsenen Mannes sich länger als ein Menschenalter immer aufwärts und über die Höhen des Daseins hinwegbewegt hatte.
Wie hatte ich seine hinreißende und verwegene Art, das Leben zu nehmen, von Jugend an beneidet, und wie weit entfernt war ich selbst von dieser echten Tradition unserer Familie! Wer ihn nicht näher, etwa nur gesellschaftlich kannte, gewahrte den liebenswürdigsten, gastfreundlichsten, jovialsten Lebemann von kaufmännisch patrizischer Färbung. Aber welch prächtiges und gefährliches Raubtier lauerte hinter dem breiten Lachen und der gefälligen Behäbigkeit!
Wegen seines ausgearbeiteten, wollüstig grausamen Römerkopfs hatte ich ihn in meiner Primanerzeit mit dem großen Lebenskünstler und Genußmenschen Sulla verglichen. Wie ich jetzt so vor ihm saß und ihn betrachtete, mußte ich mir selbst ein Kompliment machen über die instinktive Sicherheit meiner Schülerphantasie.
Pritzlaff ordnete seine Papiere, klappte die Kontobücher zu und schloß alles sorgfältig ein. Dann zog er mich mit einer großen Gebärde an sich.
„Willkommen, Dietrich! Willkommen, mein alter Junge! Freut mich, dich wieder mal zu sehen. Gut siehst du aus. Sehr gut, mein Junge. Besser als im Frühjahr. Mein Gott! In deinen Jahren ... Bäume habe ich ausgerissen! Einen ganzen Wald von Mastbäumen hätt’ ich ausreißen können! Seitdem hat man ein Loch nach dem anderen zurückgesteckt. Es gibt ein Lied mit dem Refrain: ‚Und in der Kajüte wird es kalt ...‘ Hab’ ich dir sicher schon vorgesungen bei De Crignis? Na also, mein Sohn. In der Kajüte wird es kalt. Und darum, mein lieber Dietrich Stobäus ... wundere dich nicht. Bleibe ruhig auf deinen vier Buchstaben sitzen. Darum also, mein lieber Junge, will ich dir jetzt ein Präsent machen, das ich dir, um offen zu sein, vor zehn Jahren, vor fünf Jahren, ach vielleicht noch vor drei Jahren nicht gemacht hätte. Dann hätt’ ich es nämlich, mit Verlaub zu melden, für mich selbst behalten. Aber wie bereits so schön bemerkt, in der Kajüte wird es kalt, und alte Knaben, wie ich ganz sachte einer geworden bin, sollen ihre Finger von so etwas lassen. Diese Blume, die ich dir jetzt überreichen und ins Knopfloch stecken will, diese Wunderblume blüht mehr für die reifere Jugend von deiner Jahreszeit. Für mich hat sie leider zu spät geblüht. Hol’ uns der Deiwel! Man kann nicht alles haben wollen. Dir aber rat’ ich, mein lieber Dietrich Stobäus, greife zu. Nimm, was du kriegen kannst und was ich dir als dein alter Vormund und Onkel in aller Freundschaft und Uneigennützigkeit ans Herz lege.“
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