Es war tief in der Nacht. Ich zitterte am ganzen Leibe und rang nach Atem. Mein Herz klopfte heftig gegen die Rippen. Noch im Erwachen war es mir, als habe die Erscheinung mir nach dem Halse gegriffen und entferne sich erst, als ich schon die Augen öffnete, langsam von meinem Bettrand in das Dunkel des Zimmers.
Fünf Tage waren seit meiner Rückkehr von K. verflossen, ohne mir ein Lebenszeichen von Karola gebracht zu haben, und die Angst meiner Nächte, alles sei nur ein Wahnbild gewesen und ich würde sie nicht wiedersehen, begann sich bereits in meine Tage einzuschleichen. Da erhielt ich am sechsten Morgen, während ich gerade ruhelos meinen Frühstückstisch umkreiste und alle Möglichkeiten für und wider abwog, die erlösende telegraphische Depesche: „Großfürstin kommt Mittagszug. Bereite würdigen Empfang. Fritzepritz.“
Ich mußte unwillkürlich laut auflachen, als ich die Worte las und mir die zynische Grimasse des Konsuls dabei vorstellte. Wie die Welt doch mit einem Schlage anders aussah! Mir war, als hätte ich tagelang Zahnschmerzen gehabt und sei mit dichtverbundenem Kopfe umhergegangen. Die Dinge des Lebens hatten nur ganz von weitem in meinen Ohren gesummt, und alle Gedanken hatten sich um den einen dumpfen, bohrenden, zuckenden Nerv, um den qualvollen Dorn im Fleisch gedreht. Plötzlich war, wie durch eine Wundertinktur, dies alles mitsamt Binden und Tüchern von mir fort und ich sah entzückt die freie, leuchtende Herrlichkeit der Welt.
Ich stürzte an die Fenster meines Wohnzimmers, stieß sie auf und atmete aus tiefster Brust. Welch strahlender Himmel, gleich tiefblauem Samt, über den roten Giebeln und Dächern straßauf, straßab. Wohl erinnerte ich mich dunkel an eine Reihe von schönen warmen Tagen, die seit meiner Reise nach K. einander gefolgt sein mußten. Sie waren aus den unermessenen Weiten des Kommenden über die schmale Regenbogenbrücke des Heute dahingezogen, um in den bodenlosen Abgründen des Gewesenen zu verschwinden, und keine Spur ihres Seins war mir geblieben. Erst dieses heutige Heute, diese Sonne erst und diese wolkenlose Bläue waren wirklich und wahrhaft und unverlierbar.
Ich ging in mein Bibliothekszimmer, öffnete den Schreibsekretär und malte mit großen Buchstaben und Zahlen auf einen weißen Bogen Papier: „Montag, den 19. September 1859, vormittags 10 Uhr.“ Es war mir, als schriebe ich damit eine Art von kabbalistischer Zauberformel hin, die ich sorgfältig wegschließen und aufheben müsse, da ich sie vielleicht einmal brauchen würde. Irgend etwas in mir widersprach dem zwar und ließ mich über mich selbst den Kopf schütteln. Dennoch tat ich, wie mich mein Daimonion geheißen, und legte das Papier in meine Geheimmappe, während das Bildnis meines Urgroßvaters, des Ratsherrn Johann Kaspar Stobäus, von seinem Platz über dem Schreibsekretär ernsthaft auf mich herunterblickte.
Auf dem Wege zum Bahnhof, den ich zu Fuß machte — mein Wagen sollte nachkommen —, traf ich meinen alten Schulfreund Julius Schwarzwald. Er bewohnte in einer der stillen menschenleeren Gassen dieses Stadtviertels ein hübsches zweistöckiges Familienhaus und saß gerade im Sonnenschein auf dem Beischlag, als ich vorbeiging.
Wir kannten uns seit unserer Kinderzeit, hatten zusammen Klipp gespielt und Ball geschlagen und waren im gleichen Zug nebeneinander auf der Leiter der Realschule von Sankt Petri emporgestiegen. Er war immer ein schwächlicher und blutarmer Junge gewesen, wie ich auch, und das mochte uns im stillen, uns selber unbewußt, verbunden haben.
Später war ich ins Gymnasium übergegangen, er in die kaufmännische Lehre eingetreten, und wir hatten uns etwas aus den Augen verloren. Als ich ihn nach meiner Studentenzeit wiedersah, fand ich einen lang aufgeschossenen, schmalschultrigen Menschen mit kahlem Schädel und roten Flecken auf den vorstehenden Backenknochen, dem man auf den ersten Blick den Brustleidenden anmerkte.
Er hatte sich als Getreidefaktor in D. etabliert, brachte die Mittagsstunden regelmäßig auf der Börse zu, wo man ihn mit den Bauern, Gutsbesitzern und Inspektoren der Umgegend verhandeln sehen konnte, und stand wohl auch, wenn ich mich nicht irre, in Geschäftsverbindung mit Konsul Pritzlaff in K. Seine Verhältnisse waren schon von den Eltern her geordnete, sein Geschäft ging vortrefflich, da er sich unter seinen Kunden einer großen Beliebtheit erfreute. Er war nämlich stets heiter und guter Dinge, öfters von sprudelnder Laune und sarkastischem Witz, der neben den anderen auch sich selbst und sein eigenes Leiden nicht verschonte, wie sich das bei Schwindsüchtigen findet.
Wie oft war er nicht unter seinen Bekannten totgesagt worden, und immer hatte er sich von den schwersten Anfällen wieder erhoben und sogar als reiferer Dreißiger noch eine junge schwarzäugige Frau geheiratet, die ihm in wenigen Jahren drei Kinder geboren hatte.
Als ich im Näherkommen Schwarzwald auf seinem Beischlag sitzen sah, fiel mir ein, daß er neulich ja eine besonders schlimme Attacke gehabt hatte und diesmal endgültig aufgegeben gewesen war. Nun hatte er dem Knochenmann und seinen voreiligen Propheten abermals ein Schnippchen geschlagen und atmete, im Lehnstuhl halb hingestreckt, mit seinen armen zerstückelten Lungen die würzige Seeluft, die ein leichter Wind über die Stadt hertrug.
Ich freute mich, daß doch wieder das Leben sich stärker gezeigt hatte als der Tod, was so ganz meiner augenblicklichen Stimmung entsprach, und trat näher, um den Genesenden zu begrüßen. Er wickelte seine Hand aus der schwarzen Decke, in die er bis an den Hals eingemummt war, und reichte sie mir schwach herüber.
„Nun ist es doch wieder nichts damit,“ sagte er mit leiser belegter Stimme und lächelte.
„Womit?“ fragte ich teilnehmend.
„Mit dem Trauerhut für meine Frau,“ erwiderte er hüstelnd. „Schade! ... Schwarz steht ihr so gut.“
„Aber, Kerlchen ...!“ versuchte ich abzuwehren.
Er winkte ungläubig mit der Hand und preßte das Taschentuch vor den Mund.
„Was nicht ist, kann ja noch werden,“ klang es krächzend dahinter hervor. „Wir müssen ja alle mal dran glauben ... Und Mariechen ist ja noch jung ... Ich werde ihr schon mal den Gefallen tun müssen ... damit sie zu ihrer Farbe kommt.“
Ich schwieg und sah besorgt auf ihn hinunter, wie er so, ein Bild der Erschöpfung, im Stuhl lehnte und vor sich hinstarrte. Plötzlich kniff er das eine Auge zusammen und erhob den Kopf ein wenig zu mir.
„Man muß die Weiber kennen,“ klang es hohl aus seinem Brustkasten, wie aus einer leeren Tonne. „Sie sind nicht wie wir ... Ich sage nicht, sie sind schlechter ... auch nicht besser als wir. Sie sind bloß anders. Total anders! ... Eine Speicherkatze braucht ja auch nicht zu sein wie ein Ziegenbock ... Ein echtes Frauenzimmer ist wie eine gute Reisetasche. Man kann hineinstopfen ... und hineinstopfen. Es ist immer noch Platz für etwas. Der kranke Mann ... das neue Kleid ... die Krinoline von Tante Ida ... was bei Lemkes auf den Tisch kommt ... ob Jettchen bald mit dem Zahnen fertig ist ...“
Ein heftiger Hustenanfall warf ihn in den Stuhl zurück. Es war ein Keuchen, Ächzen, Rasseln, als habe eine unsichtbare Hand innen in das verborgene Uhrwerk hineingegriffen, um es für immer zum Stehen zu bringen. Ich beugte mich über ihn, deckte ihn sorgfältig wieder zu und flößte ihm einen Löffel von der neben ihm stehenden Medizin ein. Allmählich ließ der Krampf nach. Schwarzwald dankte mir mit einem Druck seiner feuchten, heißen Hände und sagte, als habe er in meinen Augen gelesen:
„Keine Bange, Freundchen! ... Er holt mich noch nicht! ... Mariechen wird noch ein Weilchen Geduld haben müssen. Und was die Frauenzimmer im allgemeinen anbetrifft ... man braucht doch nun mal ... eine Reisetasche ... für unterwegs ... Solltest dir auch noch so ein Dings anschaffen auf die Reise. Zeit wär’s! ... Aber aufpassen heißt es, Freundchen. Augen haben wie ein Luchs ... Die Dinger werden einem ... zu leicht vertauscht oder stibitzt. Und je aparter das Muster ... desto fixer.“
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