Linni lauschte mit hängenden Armen seinen Ausführungen. »Also wirst du dein Wissen für dich behalten?«
»Ja, ich werde schweigen. Damit ich deinem Glück mit Brigitte nicht im Wege bin«, gab sie ironisch zur Antwort.
»Lass bitte Brigitte aus dem Spiel. Ich allein trage die Schuld.«
»Da hast du ausnahmsweise einmal Recht.« Mit diesen Worten verließ sie sein Zimmer.
Christian blieb zurück, aufgewühlt und unglücklich – und doch ein klein wenig erleichtert.
4
Linni
In Linnis Kopf rauschte es. Wäre sie doch bloß ein Vogel und könnte dem ganzen Schlamassel einfach entfliehen. Sie wusste, dass ihre Arglosigkeit und Unbekümmertheit gegenüber ihrer Schwester mit einem Mal für immer verschwunden waren.
Nach und nach jedoch verstärkte sich in ihr ein ungeheuerlicher Gedanke, den sie beschämt zur Seite zu stoßen suchte. Umsonst. Er biss sich in ihr fest wie eine Zecke, auch wenn er ihr noch so unerträglich war.
Was wäre, wenn sie Ella jetzt tatsächlich die Wahrheit sagte und diese daraufhin mit Noemi – Was für ein komischer, ausgeflippter Name war das eigentlich? – Kontakt aufnähme? Die Zwillinge würden irgendwann merken, wie nah sie sich stünden. Jeder wusste um die besondere Nähe, die zwischen eineiigen Zwillingen bestand. Und sie wäre dann möglicherweise an den Rand gedrängt, geplagt von entsetzlicher Eifersucht.
Ihr brach erneut der Schweiß aus.
Das wäre furchtbar!
Wenn sie jedoch schwieg, wäre sie ebenso feige wie ihr Vater. Sie könnte Ella wahrscheinlich nie wieder normal gegenübertreten. Stets würde sie das schlechte Gewissen plagen.
Die Zwillinge – Ella zumindest – wären ihr vielleicht dankbar, die Wahrheit zu kennen.
Aber waren sie das wirklich? Wie stand es um Noemi? Vielleicht hatte Aurelia geheiratet und es gab weitere Geschwister und schlimmstenfalls einen ahnungslosen Ehemann? Und plötzlich platze in diese Idylle ein unbekannter Zwilling. Ella würde leiden angesichts des Gefühlsdesasters, das sie ausgelöst hätte, und sich vielleicht wünschen, nie von Noemi gehört zu haben. Ganz zu schweigen davon, wie Aurelia auf die Veränderungen und das gebrochene Versprechen reagierte.
Was also sollte sie tun?
Linni schüttelte angewidert den Kopf. Was hatte ihr Vater ihr da nur angetan?
Am Abend tauchte dann zu ihrer aller Freude Tommaso bei ihnen auf, um sie zu einem kleinen Umtrunk einzuladen. Zuerst wollte Linni spontan absagen. Ihrem Vater und vor allem Ella jetzt entspannt gegenüberzutreten, würde sie überfordern. Doch dann entsann sie sich, dass Ella dann ganz sicher den Grund ihrer Absage erfahren wollte – da sie, Linni, doch so narrisch in Tommaso verliebt gewesen sei. Also gingen alle gemeinsam hinüber. Wie bei ihnen, so wurde auch im Nachbarhaus in der geräumigen Küche gegessen, wo bereits kleine Tapas aufgetischt waren. Dazu gab es Bier, Wein, Wasser und zu Beginn Sekt. Linni vermied es, Brigitte in die Augen zu schauen, die mittlerweile sicher Bescheid wusste, dass Christian seinen Auftrag erledigt hatte. Doch dank des Sektes entspannte sie sich nach und nach, und am Ende des Abends war sie froh, mit den anderen gefeiert zu haben.
Tommaso hatte erstaunlicherweise überhaupt nichts von seiner Faszination von damals verloren, zu Linnis Freude jedoch die Arroganz abgelegt, welche Linni früher ab und an unangenehm aufgefallen war. Seine Männlichkeit und Erfahrenheit wurde nun noch durch die wunderbare Ruhe, die er ausstrahlte, unterstrichen. Im Gegensatz zu Elias fehlte ihm allerdings die elegante Gestalt. Er war kompakter, ein wenig kleiner und je nachdem, welche Bewegung er machte, spannte das T-Shirt ganz leicht um einen winzigen Bauchansatz. Doch sein Selbstbewusstsein hatte sich in den Jahren noch verstärkt – was angesichts seiner Auslandserfahrungen und beruflichen Erfolge verständlich war. In der Tat, Tommaso war vielleicht noch anziehender als früher, eben ohne seine damals aufgesetzte Angeberei.
»Hallo, Kleine«, begrüßte er sie mit einem Lächeln. Und beim Klang seiner Stimme fühlte sie sich prompt wieder wie die Achtzehnjährige, die ihm ein letztes Mal zum Abschied zugewinkt hatte. Das gleiche Herzklopfen, es war wirklich seltsam. Und zum ersten Mal in den letzten vier Jahren gehörte dieses Herzklopfen nicht Elias, der ebenfalls eingeladen worden war, sondern Tommaso.
»Hi, Tommaso, lange nicht gesehen«, erwiderte sie ehrlich erfreut. Hoffentlich merkte ihr niemand an, wie verlegen sie war. Herrgott noch mal, sie war neununddreißig. Stand »ihren Mann« in der Sattlerei und feierte recht ansehnliche Erfolge als Schmuckdesignerin. Aber bei Tommasos Anblick versagte ihr beinahe die Stimme. Was Unsinn war, denn sie liebte Elias, bei dem ihr ebenfalls viel zu oft die Stimme versagte. Bisher war sie immer überzeugt gewesen, dass man nur einen lieben konnte. Zwei auf einmal und gleich stark? Unmöglich. Dann liebte man keinen richtig.
Sollte das bedeuten, dass sie Elias aufgeben sollte? Tommaso musste sie gar nicht erst aufgeben, der hatte sich noch nie mit ihr beschäftigt und nachdem klar war, dass er Meran für immer verlassen würde – da war sie gerade achtzehn geworden –, stand für sie sofort fest, dass sie ihn sich aus dem Herzen reißen musste. Was ihr gelungen war. Bis zum heutigen Abend.
»Stimmt, ungefähr zehn Jahre.«
»21«, verbesserte sie ihn, »denn deine früheren Vorbeiflüge zählen nicht.«
»Du hast Recht. Bist ja hübsch gewachsen seit dem letzten Mal.«
Sie schmunzelte. Früher war sie von der Angst heimgesucht worden, kleinwüchsig zu bleiben, wie sie ihm einmal in ihrer Jugend verraten hatte und was dann zum Glück nicht eingetreten war. Wie nett, dass er es nicht vergessen hatte.
Ihr Herz war ihm damals verfallen, als sie auf einen Baum in seinem Garten geklettert war, um Simon, ihren Waldkater, zu retten. Das hatte der Kater selbst mittels eines mutigen Sprungs erledigt, als Linni ihn auf dem hohen Ast endlich erreichte. Doch sie hatte Angst, herunterzuklettern oder gar zu springen. Da erblickte Tommaso sie aus seinem Fenster. Sie wedelte mit den Armen und rief und er kam in den Garten gesprintet.
»Gut, dass du gekommen bist. Bitte hilf mir. Ich … ich kann nicht mehr runter«, sagte sie, nur mit Mühe ein Schluchzen zurückhaltend.
»Was musst du auch auf Bäume klettern?«, mahnte er sie. »Kleine Mädchen sollten mit dem Klettern warten, bis sie groß genug dazu sind. Das kannst du besser Ella überlassen.«
Bereits früher war Ella mit Begeisterung geklettert. Anfangs auf sämtliche Bäume im Garten, später im Fels, und war stets gesund und munter wieder heruntergestiegen.
Dann breitete er die Arme aus, und sie sprang – was sie beide auf den weichen Rasenboden plumpsen ließ.
Erst sehr viel später war sie in die Höhe geschossen. Doch da war dieser Mann natürlich in der Weltgeschichte unterwegs und sie nicht mehr im Blick. »Und du hast dir … äh … endlich einen anständigen Haarschnitt zugelegt.« Was stimmte. Ewig lief er früher mit Haaren bis auf die Schulter herum, was ihm zwar gestanden hatte, jedoch angesichts seiner störrischen dicken Haare ein wildes, ein wenig finsteres Aussehen verliehen hatte.
»Meiner Ex-Freundin sei Dank. Und du? Was macht das Liebesleben? Bist du liiert oder gar verheiratet? Oder nur unglücklich verliebt?«
»Ich bin glücklicher Single«, antwortete sie.
Er zuckte die Achseln. »Glückwunsch. Glückliche Singles sind rar wie Regen in Dubai.«
»Und wie war es so in der Wüste? Massenhaft Stege über die unzähligen Bäche geplant?«
»Mächtige Brücken über sechsspurige Autobahnen gebaut«, sagte er nicht ohne Stolz.
Sie hob anerkennend die Brauen. »Und? Dabei keine reiche Bewunderin an Land gezogen?«
»Abgesehen davon, dass meine Arbeit mich voll beansprucht hat, reichte mein Charme leider nicht aus, eine von ihnen aus der Wüste in die Berge zu zerren.«
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