Er hob an, doch da hörten sie im Flur Ellas Schritte. Er zuckte zusammen und ergriff Linnis Arm. »Psst … warte!«
Sein Herzklopfen verstärkte sich. Hoffentlich stürmte sie jetzt nicht in sein Zimmer, denn wenn sie sie beide hier vorfand, würde sie sofort merken, dass etwas nicht stimmte. Und dann konnte er für nichts mehr garantieren.
Sie vernahmen, wie Ella das Haus verließ, und er und auch Linni atmeten sichtlich auf.
»Es tut mir leid, dass ich es dir überhaupt verraten muss, aber mir ist klargeworden, dass es wirklich wichtig ist. Zudem hat Brigitte mir die Pistole auf die Brust gesetzt, endlich zu reden«, begann er zögernd. »Ansonsten wäre sie nicht einverstanden gewesen, dass ich zu ihr hinüberziehe.«
Er bemerkte eine Spur von Eifersucht in den braunen Augen seiner Tochter. »Papa, bitte spuck es aus!«
Er räusperte sich. »Es geht um Ella.«
»So weit waren wir schon«, erinnerte sie ihn ungeduldig.
»Es geht um ihre Geburt.« Er hielt inne. Oh Gott, wie sollte er das Ganze bloß überstehen. Einen Rückzieher konnte er allerdings vergessen. Brigitte würde ihn vierteilen. Zu Recht. »Tatsache ist … äh … verdammt, es ist so schwer …«
Sie reagierte nicht. Er fuhr fort, ohne um den heißen Brei zu reden. »Sie wurde nach ihrer Geburt von uns adoptiert …«
»… wie wir alle bereits wissen«, unterbrach ihn Linni eine Spur gereizt.
»Doch ihre Mutter … äh … sie verstarb nicht bei der Geburt, sondern … sondern sie lebt.«
»Vater!« In Linnis Miene war nichts als schiere Erschütterung zu lesen.
»Und nicht nur das, außerdem gibt es noch …« Er stockte.
»Den Vater«, half sie, weiß wie die Wand, ihm auf die Sprünge, ungewohnt scharf. Ihre sonst so weiche Stimme war klirrend wie Glas.
»Nein, also, davon weiß ich nichts. Das, was ich meine ist … nun … äh … Ella hat eine Zwillingsschwester. Noemi.«
Linni leckte sich die Lippen. Einige Sekunden war die Luft zum Schneiden und eine zu Boden fallende Stecknadel hätte sich wie die Detonation einer Bombe angehört. »Weißt du, was du da sagst?«, krächzte Linni mit Reibeisenstimme hervor.
Er nickte. »Und ich weiß, dass es unverzeihlich ist, dass wir, also Mutter und ich, euch nie eingeweiht haben.«
»Vor allem Ella gegenüber«, erklärte Linni erschüttert.
Erschaudernd realisierte er, dass sie ihn betrachtete, als hätte sie einen völlig Fremden vor sich. Nicht einmal in ihrer teilweise strapaziösen Teenagerzeit hatte sie ihn so angesehen – voller Abscheu und Distanz.
Aufgewühlt strich sie sich über die trockenen Lippen. »Wo … wo wohnen die beiden?«
»In Mailand.« Er schwieg und blickte starr aus dem Fenster.
»Rede! Was ist genau passiert?«
Christian zückte das Stoff-Taschentuch und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »Floriana arbeitete damals als Schwesternhelferin im Krankenhaus. Brigitte hatte ihr die Stelle verschafft. Dort lag also Aurelia, das ist die Mutter«, fügte er töricht hinzu, »und brachte Zwillinge auf die Welt. Eineiige Zwillinge. Aurelia war damals achtzehn Jahre alt und völlig überfordert. Der Vater hatte sich auf Nimmerwiedersehen verabschiedet und sie stand hilflos vor der riesigen Aufgabe, zwei kleine Kinder praktisch ohne Hilfe großzuziehen. Ihre Eltern hatten sie verstoßen. Aurelia war bereits mit sechzehn ausgezogen.« Jetzt, da die schwersten Worte ausgesprochen waren, redete er ohne Punkt und Komma und mit monotoner Stimme. »Sie und Floriana konnten auf kein gutes Verhältnis zurückblicken. Und als Aurelia nach der überstandenen Geburt, die keine drei Stunden dauerte, derart klagte, bemerkte Floriana, sie solle doch froh sein, dass sie zwei gesunde Kinder auf die Welt gebracht hatte und wie sehr sie und ich uns Kinder wünschten. Und so entstand alles. Aurelia bot uns Ella zur Adoption an und wir waren überglücklich. Allerdings verweigerte sie sich unserem Wunsch, auch das zweite Kind, Noemi, zu adoptieren. Zudem verlangte sie unser Schweigen über das Vorhandensein des Zwillings und dass ihre leibliche Mutter lebte, was natürlich das Schwerste war. Dann zog sie nach Mailand und wir hörten nie wieder von ihr.«
Linni schlug mit beiden Händen auf den Tisch. »Das ist doch ungeheuerlich«, brach es aus ihr heraus.
Christian fuhr sich mit feuchten Händen durch sein dichtes Haar. »Ja, im Grunde schon und glaub mir, es hat uns manch schlaflose Nacht gekostet.«
»Ach, das tut mir aber leid«, antwortete sie bissig. »Und du hättest also Ella und auch mich bis zu deinem Tod im Ungewissen gelassen, wenn Brigitte nicht wäre.«
Er wischte sich erneut übers Gesicht. »Äh … nein … ja.«
»Vater, du bist wirklich ein richtiger Feigling. Schäm dich«, stieß sie außer sich hervor. »Wie stand denn Mama zu all dem?«
»In den ersten Jahren beschwor sie mich, dass wir euch die Wahrheit sagen, doch dann … zerrann die Zeit, ihr wurdet größer … und irgendwann haben wir nicht mehr daran gedacht, also … äh … die Sache verdrängt. Bis nach meinem Schlaganfall.«
»Na, da hatte der ja auch ein gutes«, entgegnete Linni immer noch völlig aufgewühlt.
Einen Moment herrschte Stille. »Jetzt ist es so, dass ich mich völlig überfordert fühle. Ich fürchte, dass, wenn ich jetzt Ella einweihe, sie sich von mir abwendet. Und nicht nur von mir, sondern ebenso von Brigitte, denn die wusste natürlich ebenfalls Bescheid. Allerdings hat sie uns schon früher gedrängt, euch reinen Wein einzuschenken.«
»Und wenn Ella dahinterkommt, dass auch ich Bescheid weiß, wird sie auch mir einen Tritt geben«, stieß Linni hervor. »Zu Recht.«
Wieder legte sich bleiernes Schweigen über sie. Christian seufzte tief und betrachtete unglücklich ein Rotkehlchen, das sich am ausgestreuten Futter gütlich tat. Er schritt nicht einmal ein, als die graue Nachbarskatze sich unbemerkt anschlich, um mit dem Vogel zu »spielen«, was er normalerweise durch energisches Klopfen am Fenster verhindert hätte.
»Du wirst es ihr verraten?«, erkundigte sich Christian mit schwacher Stimme.
Erregt sah sie ihm in die Augen. »Hast du eine Ahnung, in was für eine unmögliche Situation du mich bringst?«
Er nickte. »Und glaub mir, ich hätte von mir aus nichts gesagt, aber … Brigitte … sie hat es zur Bedingung gemacht, dass ich wenigstens dir die Wahrheit beichte. Und du … im Falle meines Todes … Ella einweihen würdest.«
»Das darf doch nicht wahr sein«, rief Linni entrüstet. »Dass Brigitte geschwiegen hat, kann ich ja noch verstehen, aber dass der Schwarze Peter jetzt bei mir liegt, ist einfach ungeheuerlich. Abgesehen davon, dass du ohne Brigitte weiterhin, feige wie du bist, geschwiegen hättest … auch wenn du mir damit einen großen Gefallen getan hättest«, fügte sie laut hinzu.
Er nickte betreten.
Linni starrte weiterhin geradeaus. Das Rotkehlchen hatte den Sprung der Katze in letzter Sekunde erahnt und war fortgeflogen. »Ich bin so sauer, ach was, sauer ist der falsche Ausdruck. Ich bin extrem entsetzt, dass du mich mit deiner Enthüllung in eine solche Situation bringst. Das werde ich dir nie verzeihen, Vater.«
Mit diesen Worten stand sie auf, doch seine Hand schnellte vor und hielt sie fest. »Verzeih mir, Linni! Aber glaub mir, auch uns, deiner Mutter und mir, lag das all die Jahre auf der Seele.«
»Tja, da sieht man, dass es besser ist, unangenehme Dinge gleich zu benennen und sie nicht ein Leben lang unter den Teppich zu kehren.«
»Aber Ella hätte sich doch, sobald sie dazu in der Lage gewesen wäre, auf die Suche nach den beiden gemacht. Und dann wäre bei ihr möglicherweise dieser Zwiespalt entstanden, wen sie mehr liebte – ihre leibliche Mutter oder Floriana. Glaub mir, Floriana hätte diese Situation gemeistert. Aber Aurelia hätte Ella ganz sicher mit dieser Frage, wen Ella mehr liebe, bedrängt, denn sie war wirklich kein einfacher Mensch. Und außerdem hätte sich Ella immer nach Noemi gesehnt«, rief er erregt. »Das ist so bei Zwillingen, davon bin ich jedenfalls überzeugt.«
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