»Und darum haben wir beschlossen, dass ich zu ihr hinüberziehen werde. Und das gleich am nächsten Wochenende.«
Linni und Ella sahen sich überrascht an, erhoben ihre Gläser, und dann sagte Ella: »Oh, Vater, wie uns das freut. Na, aber herzlichen Glückwunsch euch beiden.« Lächelnd stießen alle miteinander an.
»Und? Wollt ihr dann auch heiraten?«, erkundigte sich Linni. Sie, da war sich Christian sicher, hätte keinerlei Probleme damit. Und er vermutete, dass Ella ebenso dachte.
»Das werden wir im nächsten Jahr prüfen«, ließ sich Brigitte vernehmen, die bisher geschwiegen hatte. Doch an den hochroten Wangen und den bebenden Fingern, mit denen sie das Schnapsglas ergriff, konnte man erkennen, dass sie aufgeregt war. »Wenn wir uns nicht die Köpfe einschlagen, werden wir diesen Schritt wohl auch wagen.«
»Wobei ich ein halbes Jahr Wartezeit ausreichend fände. Oder drei Monate«, verbesserte Christian sich augenzwinkernd. »Schließlich hatte sie Zeit genug, mich kennenzulernen.«
»Nun gut, ich stimme zu. In ungefähr drei Monaten geben wir euch Bescheid«, gab sich Brigitte strahlend einverstanden. »Prosit, ihr Lieben.« Sie setzte das Glas an die Lippen und trank es aus. Die anderen taten es ihr nach und leerten ebenfalls ihr Gläser.
Alle unterhielten sich angeregt über die Zukunft, als Brigittes Handy klingelte. »Entschuldigt, aber ich hab’ auf Tommasos Anruf gewartet. Er will mir mitteilen, wann er genau hier ankommen wird.«
Sie nahm das Telefonat entgegen. Es war kurz, und ihr Gesicht begann, noch strahlender zu leuchten. »Um die Freude noch größer zu machen, hat mein Sohn mir soeben mitgeteilt, dass er bereits heute Abend zu Hause eintreffen wird. Ach, Kinder, ich bin ja so glücklich. Und ich hoffe, ihr teilt meine … unsere Freude.« Alle spürten, dass sie um Fassung rang.
Linni stand auf und umarmte sie. »Das tun wir doch, aus vollem Herzen, liebe Brigitte.«
»Und es freut ebenfalls unsere Linni, dass ihre Jugendliebe endlich auf dem Heimweg ist«, tönte Ella lachend. Prompt errötete Linni. »Lange genug hat sie ja darauf warten müssen.«
Christian schmunzelte. Selbst ihm war damals nicht entgangen, wie sehr sie als Kind Brigittes Sohn angehimmelt hatte.
»Ja, Schatz, du warst wirklich süß damals«, lächelte Brigitte. »Leider ist Tommaso so viel älter, sieben Jahre Altersunterschied sind für einen jungen Mann eben wie für uns zwanzig Jahre.«
»Keine Sorge, Brigitte, ich bin über ihn hinweg«, gab Linni lächelnd zur Antwort. Also war ihr Schmachten damals nicht unbemerkt geblieben, und somit wahrscheinlich auch nicht von Tommaso selbst. »Auf jeden Fall ist es schön, dass dein Sohn wieder bei dir … bei euch einziehen wird.«
Brigitte nickte. »Groß genug ist das Haus ja. Tommaso hat den gesamten ersten und zweiten Stock für sich, und ihr kennt ja das Haus. Er ist also nicht gezwungen, durch unsere Wohnung nach oben zu steigen, wenn es mal spät wird.«
In der Tat war ihr Haus so groß wie das von Christian und hatte ebenfalls ein Flachdach. Doch im Gegensatz zu ihrem gab es nicht nur eine Treppe innen, sondern zusätzlich die mit Holz umbaute Treppenstiege außen an der Seite des Hauses, sodass die zwei Wohnungen separat zu erreichen waren. Er würde viel Platz für sich allein haben. Die Wohnung von Brigitte nahm das ganze Erdgeschoss ein, was wiederum ein Glücksfall für Christian war. Denn, auch wenn der Schlaganfall glimpflich verlaufen war, eine Wohnung ohne Treppen war von Vorteil.
Gut, dass Tommaso heute zurückkehrte, nicht nur, weil er gespannt war, ob er sich verändert hatte. Tommaso war immer schon ein attraktiver Mann und er besaß hoffentlich auch zwei starke Arme, die kräftig bei seinem Umzug mit anpacken konnten. Wobei sich sein Hab und Gut in wenige Kartons verstauen ließ.
Ja, es war ein wirklicher Glückstag, dachte er zufrieden. Zumindest dieser Teil des Tages.
Brigitte verabschiedete sich mit einem Kuss, nachdem sie die Küche aufgeräumt hatten, und auch Ella begab sich hinauf in ihr Reich.
»Du weißt, was du zu tun hast«, erinnerte seine Zukünftige Christian ernst an seine Pflicht.
»Ja, keine Sorge, ich ziehe das durch«, versprach er.
Als Linni sich ebenfalls zurückziehen wollte, hielt er sie auf. »Du, Schatz, ich möchte etwas mit dir besprechen. Hättest du einen Augenblick Zeit?«
Sie schloss das Küchenfenster, und das Vogelgezwitscher von draußen klang nur noch gedämpft in den großen Raum. Als sie sich setzen wollte, legte er den Arm um sie.
»Besser, wir gehen hinüber in mein Zimmer.«
Sichtlich erstaunt folgte Linni seiner Bitte. Er konnte sie verstehen. So etwas hatte es lange nicht gegeben. Er entsann sich des Todestags ihrer Mutter und Elias’ Frau. Auch da hatte er sie zur Seite genommen und ihr in dem Zimmer die schreckliche Nachricht übermittelt.
»Ist jemand krank?«, fragte sie mit bangender Stimme.
»Nein, Schatz. So schlimm ist es nicht.« Nicht ganz jedenfalls, fügte er insgeheim hinzu, denn die Nachricht war schlimm genug. Je nachdem, wie man es betrachtete.
In seinem Zimmer schloss er das Kipp-Fenster und wies auf den kleinen runden Tisch in der Ecke des Raumes, der ihm seit seinem Schlaganfall als Schlaf- und Wohnzimmer diente. Das Fenster wies auf die für den normalen Verkehr gesperrte Sackgasse, auf der es wie immer ruhig war. Eine mächtige Ringelweide in ihrem Vorgarten filterte auf angenehme Weise das Sonnenlicht, was vor allem im Hochsommer sehr wohltuend war.
»Bitte, nimm Platz«, bat er förmlich.
Sie sank in den blassgrünen Cocktailsessel, den ihre Mutter noch kurz vor ihrem Unfall auf einem Flohmarkt erstanden und neu bezogen hatte. Früher war dieser Raum ihr privates Reich gewesen.
Das Zimmer war unbeheizt, und Christian bemerkte, wie Linni die Arme vor der Brust verschränkte und die Schultern hochzog.
»Ist dir etwa kalt? Soll ich die Heizung einschalten?«
Sie schüttelte stumm den Kopf.
Er ließ sich in den anderen kleinen Sessel fallen. Heute fühlte er sich nicht so gut wie an den anderen Tagen, obwohl doch die freudige Nachricht über Brigitte und ihn so wohlwollend aufgenommen worden war. Aber nun folgte der schwere Teil des Tages, und er wünschte, er hätte ihn schon hinter sich. Wie sollte er nur beginnen?
»Das, was ich dir heute zu sagen habe, soll bitte unter uns bleiben«, begann er schließlich.
»Kommt drauf an, was du mir zu sagen hast«, brachte Linni ebenfalls mühsam heraus.
Er wusste, dass es unter den Geschwistern keine Geheimnisse gab – sofern er nicht völlig falsch lag. Abgesehen davon, dass es ihr grundsätzlich schwerfiel, Geheimnisse für sich zu behalten.
»Nein, zuerst versprich mir, dass du auf jeden Fall den Mund hältst.«
Sie zögerte kurz, dann nickte sie leicht. »Gut, mach’ ich.«
Am Kneten seiner Hände merkte Linni, wie nervös er war. Und als er registrierte, wie sie ihn mit vor Angst geweiteten Augen anstarrte, verstärkte sich diese Nervosität noch. Im Zimmer war es totenstill. Die Vogelstimmen von außen drangen nur gedämpft herein. Am liebsten wäre er aufgestanden, um das Fenster wieder weit zu öffnen, als könnte er damit die bedrückende Stimmung in die Freiheit entlassen. Doch er wollte sicherstellen, dass sie niemand belauschen würde. Linnis Lippen pressten sich aufeinander, und einen Moment war er gerührt über ihre Bemühung, gefasst das Geheimnis entgegenzunehmen.
»Ich wollte es dir schon gleich nach meinem Schlaganfall verraten, aber dann … verließ mich der Mut und … und ich war auch viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt, als dass ich die Kraft hatte, es dir zu sagen.«
Sie holte tief Luft, dann blickte sie ihm fest in die Augen.
Er, der Fels in der Brandung, er zitterte, und er wusste, ohne Brigittes Aufforderung hätte er nicht den Mut gehabt, sich der Pflicht zu stellen, wenigstens Linni einzuweihen.
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